Reise in ein verwundetes Land

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Auch wenn uns die Ukraine seit Monaten täglich begleitet, wissen wir immer noch viel zu wenig über ihre Geschichte und die Menschen. In diesem Roman wird sie erlebbar.

Mit Victoria Belims autobiographischem Debütroman können wir uns auf eine fesselnde, berührende Reise in die komplizierte Geschichte dieses verwundeten Landes begeben. Im Vorwort weist die Autorin darauf hin, dass der überwiegende Teil dieses Buches bereits vor dem Angriffskrieg Russlands 2022 geschrieben worden ist. Das sollte man im Bewusstsein behalten. Viele Orte in der Handlung sind vermutlich in den letzten Monaten durch russische Angriffe dem Erdboden gleich gemacht worden.

Victorias Belims väterliche Familie ist russischstämmig, die mütterliche Seite ukrainisch. Doch viele Ethnien kamen im Laufe der Zeit hinzu (z.B. die zweite Frau ihres Vaters aus Aserbaidschan). Dadurch ist Victoria auch mit beiden Sprachen und ohne Nationalismus aufgewachsen.
Als die Ukraine ein selbstständiger Staat wurde, ist die Autorin als Jugendliche mit ihren Eltern in die USA ausgewandert. Später zog sie mit ihrem Mann nach Brüssel.

Sie blickt in diesem Buch einerseits zurück auf ihre Erlebnisse in der Kinderzeit, als die Ukraine noch eine Sowjetrepublik war. 2014, als die Russen die ukrainische Krim annektierten, kehrte sie nach langer Zeit zurück in die alte Heimat, um ihre Familie zu besuchen, ihre Wurzeln zu finden – und kam danach immer wieder.

„The Rooster House“, das Hahnenhaus so heißt der Roman im englischen Original. Im Deutschen wurde daraus „Rote Sirenen“. Beide Titel finden ihren Bezug zu einem Gebäude in der ukrainischen Stadt Poltava, vor dem zwei rote Sirenen stehen, die an Hähne erinnern und dem Haus den Spitznamen „Hahnenhaus“ verliehen. „Vika“ (wie die Autorin von ihren Verwandten gerufen wird) kennt es noch aus ihrer Kinderzeit. Doch nie durfte sie damals Fragen dazu stellen. Die verängstigte Urgroßmutter führte sie immer in einem sehr großen Bogen herum.

Vor ihrer Abreise in die Ukraine fällt Victoria in einem Karton ihrer Mutter ein Tagebuch ihres Urgroßvaters Sergjj in die Hände. Viel hatte er ihr in ihrer Kinderzeit über den zweiten Weltkrieg erzählt, aber nie etwas über seinen älteren Bruder Nikodim. Erst hier liest sie seinen Namen, den Sergij mit festem Druck auf den Stift notierte und dass er in den 1930er Jahren verschwand „im Kampf für eine freie Ukraine“. Dieser Satz löst viele Fragen in ihr aus, die ihr nur in ihrer ehemaligen Heimat beantwortet werden können. Doch niemand in der Familie mag ihr etwas über ihren Großonkel erzählen.
So reist Vika 2014 zum ersten Mal wieder in das Dorf Krutyi Bereh, wo im bescheidenen Haus ihrer Urgroßeltern nur noch die Großmutter Valentina lebt.

Der starke Wunsch, Nikodims Schicksal aufzuklären, wird sich nicht beim ersten Besuch in der Ukraine erfüllen. Aber es werden immer wieder Spuren auftauchen, die die Protagonistin nicht nur Nikodim näher bringt, sondern dem Schicksal ihrer ganzen Familie und der ganzen Ukraine selber.
Vika wird durch halbverfallene Dörfchen irren, uralten Hinterbliebenen ihre dunklen Erinnerungen entringen, alte ukrainische Traditionen und kulturelle Besonderheiten kennenlernen, sich intensiv mit der wechselvollen schlimmen Geschichte des Landes beschäftigen und sich mit der postsowjetischen Bürokratie auseinandersetzen müssen.

Was für ein harter Weg zur Geschichte der eigenen Familien und der alten Heimat. Und zu sich selbst. Doch am Ende der verschlungenen Wege in die Vergangenheit wird sie wieder vor dem Hahnenhaus mit den roten Sirenen stehen.

Fazit:

Victoria Belim gelingt es auf intensive emotionale Weise die Geschichte erfahrbar werden zu lassen, indem sie sie mit der eigenen Familiengeschichte und ihrer persönlichen Entwicklung verknüpft. In die Vergangenheit kommt Licht und erklärt die Gegenwart.

Ihre Schilderungen sind sehr einfühlsam. So wächst einem als Leser*in zum Beispiel die Großmutter Valentina sehr ans Herz. Man streift förmlich durch ihren geliebten Garten mit den frisch eingesetzten Kartoffeln und den blühenden Kirschbäumen. Interesse an kulturellen Besonderheiten wie den lebhaft vorgestellten feinen Stickereien wird geweckt.

Wir begegnen sehr authentischen Charakteren, die warmherzigen oder auch exzentrischen Verwandten, kauzige Nachbarn, spannende neue Bekannte und jene, die nicht mehr persönlich auftauchen können, begleiten die Erzählung wie Schattengestalten. Die Mentalität, Traditionen und Kultur der Ukrainer*innen werden vertrauter. Was für einen bewegten Wandel und schreckliche Schicksale mussten sie erleiden.

Gerade bei den Teilen der Geschichte, die über das grausame Wirken der sowjetischen Geheimpolizei, die Hungersnot des Holodomor, ja der ganzen Zeit des Stalinismus berichten, läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Die schwierige und höchst belastete Beziehung zu Russland (die schon vor dem aktuellen Angriffskrieg bestand) wird nachvollziehbar. Man kann nachvollziehen, wie sich die Ukraine nach den sowjetischen Jahren erst wieder selber finden musste.

Ich fand es beeindruckend, wie vor meinen Augen die ukrainische Geschichte des letzten Jahrhunderts bis heute in den Schicksalen der Familienmitglieder der Autorin entlang zog. Für mich ist das ein sehr warmherziger, spannender und sehr wichtiger Roman. Jedem wird klar, warum die Ukrainer*innen so mutig und entschlossen um ihre Heimat kämpfen. Denn sie wissen, dass sich die Geschichte erneut zu wiederholen droht.

Gern vergleiche ich die deutschen mit den Originalcovern. In diesem Fall gefällt mir das der englischen Ausgabe besser. Aber immerhin passt im deutschen Cover der Bezug zum berüchtigten Hahnenhaus.

Ein Roman der mich außerordentlich beindruckt hat und mich für Stunden auf dem Sofa festgebannt hat.