Rührende und beeindruckende Familiengeschichte

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krabbe077 Avatar

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Rote Sirenen ist der Debütroman von Victoria Belim, die in der Ukraine aufwuchs, als Teenagerin in die USA auswanderte und mittlerweile in Brüssel lebt. Sie ist Journalistin und Autorin, außerdem ausgebildete Parfümeurin und betreibt einen Blog, auf dem sie ihrer Leidenschaft für Düfte aus aller Welt nachgeht. In ihrem Debütroman verarbeitet sie ihre Reisen in die Ukraine, bei denen sie sich zwischen 2014 und 2019 auf Spurensuche nach ihren eigenen Wurzeln begab. 

Die Geschichte beginnt mit einem Streit zwischen Victoria und ihrem Onkel Wladimir. Dieser lebt in Tel Aviv, wohin er mit 55 Jahren ausgewandert ist. Seine Begeisterung für die Sowjetunion hat er sich jedoch immer beibehalten, was immer schon einen kleinen Schatten auf die ansonsten liebevolle Beziehung der beiden warf. Victoria assoziiert nichts Positives mit dem totalitären Staat in dem sie geboren wurde und beschreibt, dass sich auch ihre teilweise bolschewistischen Vorfahren für die Unabhängigkeit der Ukraine aussprachen. Damit macht die Autorin gleich zu Beginn wie beiläufig klar, auf welcher Seite sie im Spannungsfeld Ukraine-Russland steht. Eine wie ich finde sehr geschickte und natürlich wirkende Art, den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen, ohne mit wehenden Fahnen auf den großen russischen Aggressor zu schimpfen. Schließlich endet der Disput zwischen Nichte und Onkel in Funkstille und von Wladimir hören wir vorerst nichts mehr. Im weiteren Verlauf beschreibt Victoria wie sie sich endlich überwindet, in die Ukraine zu reisen. Nach einigen Tagen in Kiew fährt sie zu ihrer Großmutter Valentina in das kleine Dorf Krutyi Bereh. Dort findet der Großteil von Victoria Belims Erzählungen statt, im Obstgarten ihrer Großmutter, in dem es immer etwas zu tun gibt. Die Autorin versucht von Valentina mehr über ihre Vorfahren zu erfahren und geht dabei ohne das zu wollen etwas ungestüm vor, was immer wieder zu Auseinandersetzungen führt. Mit sehr viel Geduld und Einfühlungsvermögen erfährt sie schließlich nach und nach mehr über ihren verschwundenen Urgroßonkel Nikodim, das gefürchtete Hahnenhaus mit den titelgebenden roten Sirenen und ihre geliebten Urgroßeltern Asja und Sergij. Es entwickelt sich eine rührende und authentische Geschichte, in der man viel über Victoria Belims familiären Hintergrund und ihre Beziehung zu ihrer Großmutter Valentina erfährt. Dabei liefert sie Einblicke, die uns ein weitaus besseres Verständnis für die vielschichtigen Probleme ermöglichen, die viele Menschen auf ihrer derzeitigen Suche nach Schutz außerhalb ihrer ukrainischen Heimat verfolgen. 

In einem Vor- und Nachwort ordnet Victoria Belim die geschilderten Erfahrungen in den Kontext der aktuellen Ereignisse in der Ukraine ein. Dabei stellt sie völlig zurecht aber ohne erhobenen Zeigefinger die Frage, ob die Katastrophe hätte verhindert werden können, wenn die Welt 2014 genauer hingeschaut hätte, was sich in ihrem Land abspielte. Sie formuliert es nicht als Vorwurf. Dennoch bin ich der Meinung es handelt sich dabei um einen Vorwurf, dem man sich in Westeuropa und insbesondere in Deutschland nicht entziehen darf. Victoria Belim hat mit Rote Sirenen eine sehr rührende und wichtige Geschichte über die Probleme geschrieben, die zahlreiche Familien aus der ehemaligen Sowjetunion unabhängig ihrer exakten Herkunft oder ihres heutigen Wohnortes bis in die Gegenwart verfolgen. Wer sich dafür interessiert, sollte unbedingt zuschlagen! In Anbetracht der aktuellen Geschehnisse stünde uns allen ein bisschen mehr Empathie und Einfühlungsvermögen für diese Belange gut zu Gesicht.