Zärtlich-bitter und wunderschön

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sternchenblau Avatar

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Was für ein wundervolles Buch! Der Erzähler liebt keine Sprach so sehr, wie die russische, aber den russischen Krieg auf sein Geburtsland Ukraine verachtet er. Seine Mutter steht leider auf der anderen Seite und die russische Gewalt dadurch direkt zwischen ihnen.

Kapitelman gelingt ein kleines Wunder: Seine Liebe für die russische Sprache, die er uns beim Lesen nahebringt, wird auch zu einem Sprachfest der deutschen, wenn er versucht, hinter die Bedeutung der Wörter zu blicken und dabei wie ein Zauberer zeitgleich mit den deutschen Worten spielt. Das geht bereits mit den ersten beiden Sätzen los.

„Der russische Wetterreporter warnt das russische Fernsehvolk. Und somit auch meine russisch fernsehvölkische Mutter.“
Und in diese wundervollen Nuancen ziehen sich durchs Buch, das sich einfachen Antworten verwehrt, ohne seinen moralischen Kompass zu verlieren. Kapitelman nutzt die Sprache zärtlich, doch die bitteren Wahrheiten schleichen sich ebenso ein, wie ein Humor, der sich von der Gewalt nicht zerstören lassen möchte. Dreh- und Angelpunkte der Geschichte ist – neben der Mutter – der elterliche Magasin, in dem die Familie „russische“ Spezialitäten verkauft. Die Geschichte springt zwischen Episoden im Laden, der Ankunft in Deutschland als Kontingentsflüchtlinge, den wenigen Kindheitsjahren in Kyiv, Gesprächen mit den Eltern, Wareneinkauf in der Ukraine, einem Bahnstreik gestrandet am Bahnhof in Grimma, Hakenkreuze am Wohnhaus und zurück in den Laden, und doch führt mich immer ein roter Faden durch die Geschichte: Was ist Heimat, was ist Identität, wie verloren sind wir, wenn sich die Weltgeschichte ins Private drängt?

Die Charaktere sind mir alle ans Herz gewachsen, wenn sie im Buch ihre kleinen und großen Auftritte bekommen. Das Leben meint es nicht immer gut mit ihnen, aber Kapitelman gibt ihnen alle Lebensfreude und Würde.

So oft zeichnete mir das Buch ein Lächeln ins Gesicht, so oft, wurde mir schwer ums Herz. Die Gewalt gestaltet sich nie explizit, aber sie ist da, ob beim Besuch in Butscha, der Propaganda oder den blaubraunen Wahlplakaten. Gerade in der ungekürzten Lesung des Autors persönlich gestalten sich die Reflexionen über die Sprache wie die Charaktere besonders poetisch, er, der seiner Mutter Sprache nicht verlieren möchte.

Dieses Buch ist mir ans Herz gewachsen. Begeisterte 5 von 5 Sternen und eine große Empfehlung.