Das Vermächtnis einer starken Frau

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ichgebäre Avatar

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Worum geht es?

Daphne Caruana Galizia war maltesische Investigativjournalistin und Bloggerin. Ihr Blog Running Commentary, der übrigens auf https://daphnecaruanagalizia.com/ immer noch zu lesen ist, hatte zu seiner Hochphase mehr tägliche Aufrufe als Malta Einwohner*innen. Als sie 2017 ermordet wurde, erreichte ihre Arbeit Bekanntheit weit über Malta hinaus.

Ihre Söhne haben im Nachhinein aus den vermutlich über 20.000 (!) Blogartikeln die besten herausgesucht und sie in einem Buch veröffentlicht. Dabei gingen sie nicht immer chronologisch vor, sondern ordneten die Beiträge thematisch. Neben den Panama-Papers und Korruption spielen auch Einwanderung, Fremdenfeindlichkeit, Pressefreiheit Rechtsextremismus und Frauenverachtung eine große Rolle. Ergänzt werden die Blogeiträge durch Caruana Galizias Kollumnen in den größten maltesischen Tageszeitungen. Die Einleitungen zu jedem Kapitel schrieben ihre Söhne. Darin wird jeweils der größere Bogen der Thematik aufgespannt.

Den Schluss bilden ein paar Artikel aus Caruana Galizias unpolitischer Arbeit zu Architektur, Wohnkultur und Geschichte, gefolgt von ihm allerletzen Blogbeitrag, den sie weniger als eine halbe Stunde vor ihrer Ermordung veröffentlichte, sowie der Zitatreihe "Daphnes greatest Hits": Eine Art Kalenderspruchsammlung ihrer wichtigsten Aussagen.


Meine Meinung
Ich gehöre zu denjenigen Menschen, die Vorworte lesen (das erwähnte ich schon...). Dieses war okay, aber es ließ mich etwas ratlos zurück. Alle sprachen von dieser starken Frau. Und die einzige Person, die sie finden, die ein Vorwort schreiben kann, ist ein Mann? Aus meiner Sicht eine unglückliche Wahl -- auch wenn Roberto Saviano aufgrund seine thematischen Hintergrundes natürlich passte. Inhaltlich war das Vorwort dann aber auch eher mittelmäßig.

Der Hauptteil des Buches ist phasenweise extrem spannend und lesenswert, phasenweise aber auch zäh wie Teer. Besonders gelungen sind diejenigen Texte, in denen Caruana Galizia keine einzelnen Politiker anprangert, sondern auf gesamtgesellschaftliche Phänomene eingeht. Sie beschreibt dann zum Beispiel eindrücklich die Situation albanischer Flüchtlinge oder erklärt, wie die schlechte Schulbildung für Mädchen sich später äußert.

Wann immer es dagegen um die Vergehen einzelner Politiker oder deren Angehöriger geht, wurde der Text für mich ausgesprochen langatmig. Vielleicht liegt es daran, dass mir keine der genannten Personen bekannt war. Oft beinhalteten diese Artikel einen Hauch von persönlicher Feindschaft und Rachsucht -- manchmal troffen sie sogar davon. Ja, es ist wichtig, über die Machenschaften von Politikern zu berichten. ( Das Wort "Politiker" ist übrigens, wie oben auch schon, absichtlich nicht gegendert. Es geht ausschließlich um männliche Politiker.) Die Distanz zum Beschuldigten, die ich von Journalist*innen erwarte, wurde hier häufig aufgegeben. Ich will dies nicht als Vorwurf formulieren, denn Caruana Galizia stand selbst im Fokus vieler Politiker und musste von diesen wiederum selber viel einstecken. Spaß hat mir das Lesen dieser Beiträge aber nicht gemacht. Obwohl die anderen Themen inhaltlich nicht leichter waren, war mein Interesse dort wesentlich größer.

Stilistisch fiel mir ein großer Unterschied zwischen ihren Veröffentlichungen in der Times of Malta oder dem Malta Independent einerseits und ihren Blogbeiträgen andererseits auf. Es mag daran liegen, dass in den großen Zeitung mehr lektoriert wird, oder dass sich Caruana Galizia bei diesen Texten selber mehr Zeit nahm als bei ihren Blogartikeln. Im Ergebnis ist es so, dass ihr Blog stilistisch nicht einfach zu lesen ist. Bandwurmsätze mit Schachteleinschüben sind eher die Regel denn die Ausnahme. Oft hätte es den Lesefluss vermutlich beträchtlich erleichtert, die Sätze aufzuteilen.

Ein Originalbeispiel aus ihrem letzten Artikel: "Mr Schembri is claiming that he is not corrupt, despite moving to set up a secret company in Panama along with favourite minister Konrad Mizzi and Mr Egrant just days after Labour won the general election in 2013, sheltering it in a top-secret trust in New Zealand, then hunting round the world for a shady bank that would take them as clients."



Optisch ist das Buch übrigens sehr angenehm gestaltet. Die Einleitungen zu jedem Kapitel sind zweispaltig formatiert, der Rest einspaltig. So ist auf den ersten Blick klar, ob es sich um das Kapitelvorwort ihrer Söhne oder um ihre eigenen Texte handelt. Die Lösung gefällt mir ausgesprochen gut.
Auch Kapitelüberschriften und Quellenangaben sowie die Anmerkungen der Übersetzer Hans Freundl und Walter Kögler verdienen eine positive Erwähnung. Sie helfen sehr, sich im Dickicht der Informationen zurechtzufinden -- genauso wie die Anordnung nach Themen statt nach Datum.
Ich begrüße übrigens ausdrücklich, dass es keine Familienfotos im Buch gibt. Immerhin geht es um eine Zusammenfassung journalistischer Leistung und nicht um eine Autobiographie.

Schmunzeln musste ich bei den letzten Einträgen, die unter dem Titel "die andere Daphne" veröffentlicht wurden. Der Beitrag über die maltesischen Orangen genauso wie die Erklärung, warum man verschiedene Wonstile mischen solle, zeigen, dass diese Frau, die so erbittert recherchierte und keine Ungerechtigkeit hinnehmen konnte, sich durchaus auch für die schönen, manchmal belanglosen Seiten des Lebens interessierte.


Ich wusste vorher übrigens nur sehr wenig über Malta. Jetzt weiß ich mehr, zum Beispiel
* Dass es erst spät von Großbritannien unabhängig wurde
* Dass der Einfluss der katholischen Kirche nach wie vor groß ist
* Dass maltesisch dem Arabischen entstammt und die einzige semitische Sprache ist, die das lateinische Alphabet benutzt
* Dass Malta einst berühmt für seine Orangen war (von denen ich nicht wusste, dass sie ursprünglich aus China kamen)
* Dass Malta nach der Unabhängigkeit auch mal den Sowjetstaaten ziemlich nahe stand
* Dass die Malteser*innen nur knapp dem Beitritt zur EU zustimmten.



Fazit: Hätte mir jemand zu Daphne Caruana Galizias Lebzeiten gesagt, ich solle ihren Blog lesen, hätte ich es vermutlich zwar getan, aber nicht lange durchgehalten. Der Schreibstil ist mir zu wirr, die persönliche Feindschaft nimmt mir zu viel Raum ein. Von einer Journalistin, auch einer Investigativjournalistin, erwarte ich weniger Sätze, die mit "Ich" beginnen. Dennoch ist das Buch lesenswert -- nicht als Fachlektüre über die Panama Papers oder weil wir neue Erkenntnisse zu den Langzeitthemen Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Pressefreiheit erhielten, sondern weil das Buch das Bild einer Frau zeichnet, die sich nicht zu schade für die Drecksarbeit war. Sie wusste, dass sie sich Feind*innen machte. Sie machte weiter. Sie bezahlte finanziell (sie wurde oft verklagt), gesellschaftlich (Leute hassten sie, ohne sie persönlich zu kennen) und schließlich sogar mit ihrem Leben. Dennoch würde sie vermutlich sagen: Meine Arbeit war nicht umsonst.

Ich gebe dem Buch 4 von 5 Sternen: Inhalt 4/5, Layout 5/5, Stil 3/5.
Für Daphne Caruanas Einsatz im Namen der Gerechtigkeit gibt es nicht genügend Sterne zu vergeben.