Sal

Ausweglosigkeit

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aennie Avatar

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Sal liebt ihre kleine Schwester Peppa über alles. Schon immer ist sie für sie da, sorgt für sie. Weil ihre Mutter oft nicht dazu in der Lage ist, zugedröhnt oder betrunken oder einfach nicht da. Seit sie vier Jahre alt ist, kümmert sie sich. Auch um die Mutter, die sie natürlich trotz allem liebt. Denn über all dem Schlimmen, und das ist Sal früh bewusst, wie falsch ihr „Familienleben“ ist, schwebt ein grausames Damoklesschwert: sie werden euch trennen. Sals größte Angst besteht darin, dass sie und ihre Schwester in unterschiedliche Heime, in unterschiedliche Pflegefamilien gesteckt werden, falls die Ämter irgendwann erfahren sollten, wie es wirklich um die Schwestern bestellt ist. Tatsächlich setzen auch die Erwachsenen diese Angst als grausames Druckmittel gegenüber ihr ein: ihre Mutter im Sumpf ihres Alkoholismus und deren neuer Freund Robert, um Sals Schweigen zu zementieren, ihr Schweigen, über die Dinge, die er mit ihr tut, seit sie zehn Jahre alt ist und in ihr Zimmer kommt, wenn ihre Mutter im Delirium liegt. Jetzt wird Peppa bald zehn, und Sal ist sich sicher, dass sie das nicht zulassen wird. Sie ist schlau, sie ist eine Planerin und weiß, wie sie sich und ihre Schwester aus dieser Situation bringen wird. Youtube sei Dank wird sie zur Survival-Expertin und die Handlung setzt ein, als die beiden seit wenigen Tagen im Galloway Forest campen. Denn das Sals Plan: überleben in der Wildnis, sich verstecken, vor denen, die sie suchen werden, wenn sie sehen, was in der Wohnung geschehen ist, zu verhindern, dass sie doch noch getrennt werden. Vielleicht irgendwann die Mutter holen. Aber vor allem eins: überleben, gemeinsam. Sals Vorbereitung und Planung kann man nur bewundern, aber natürlich kann auch sie nicht alles vorhersehen und richtig einschätzen, aber plötzlich taucht eine gute Seele auf, die die beiden fortan unterstützt.
Dieses Buch ist schwierig für mich zu bewerten. Teile davon sind grandios, andere in meinen Augen nicht. Das positive, herausragende ist zugleich das Grausamste: der Einblick in eine Kinderseele, die so großartig ist, so fähig zu lieben und zu denken und zu handeln und zugleich so brutal behandelt wurde, dass in diesem kleinen Menschen, in diesem Herz und diesem Hirn nur noch ein einziger Ausweg Platz gefunden hat. Sal berichtet beiläufig davon. Als Leser stutzt man bei den ersten Erwähnungen und bekommt einen schlimmen Verdacht. Rückblenden klären dann auf und man ist geschockt, berührt – hmm: verständnisvoll…? Ja, irgendwie schon. Man ist furchtbar wütend auf die Menschen, die sie in diese Ausweglosigkeit geführt haben. Sal gegenüber empfindet man Bewunderung, Empathie, als abgeklärter Erwachsener natürlich auch ein wenig Zweifel an der Durchführbarkeit ihres Plans. Grundsätzlich fasziniert die Idee, in der schottischen Wildnis überleben zu wollen, hier spreche ich dem Autor auch einen wirklich hohen Rechercheaufwand zu. Allein die Fülle der geschilderten Details lässt den Outdoor-Laien erschauern. Man fragt sich auch, wie oft man im Leben eigentlich mal genauer hinschauen sollte, um Kinder zu schützen vor Gewalt und einem Leben in Angst.
Was ich nicht verstanden habe, oder wofür ich irgendwie so gar keinen Bedarf sah, war die Gewichtung der Lebensgeschichte von Ingrid. Ich hätte gut mit zwei Seiten leben können, in denen sie den beiden erklärt, wo sie herkommt, was sie getan hat, warum sie im Wald lebt. Aber diese Ausführlichkeit, in der der Autor ihr Leben quasi von Geburt an im besetzten und geteilten Berlin, der DDR, in England, in allen Facetten schildert, das wäre Stoff für einen eigenen Roman, der aber an dieser Stelle nichts, aber auch gar nichts für die Story tut oder zum Fortgang der Handlung beiträgt. Das fand ich seltsam und unnötig.
Sprachlich insgesamt sehr angenehm zu lesen, die Nüchternheit, Beiläufigkeit in der Sal berichtet macht häufig umso betroffener.
Fazit: klare Leseempfehlung, auch wenn meiner Meinung nach ein paar Längen und Schwächen vorhanden sind.