Sal

Wie viel können Kinderseelen ertragen?

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elke seifried Avatar

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Die Dreizehnjährige Sal hat alles perfekt vorbereitet, weiß dank You Tube auch mehr als gut darüber Bescheid, wie man in der Wildnis überlebt. Unterstand bauen, Jagen, Kaninchenabziehen oder Fische ausnehmen, das alles ist zumindest theoretisch kein Problem mehr. Und auch praktisch darf es keines sein, denn ihre jüngere Schwester Peppa ist das Wichtigste in ihrem Leben und diese gilt es zu beschützen. Gemeinsam im Leben weiter zu gehen, kann ihnen nur auf der Flucht bzw. in ihrem Versteck in den schottischen Highlands gelingen.

„Zu der Zeit hatte er noch nicht angefangen, zu Peppa ins Zimmer zu gehen, aber das hätte er bald, das wusste ich, weil er es gesagt hatte und weil Peppa zehn war und er da bei mir auch damit angefangen hatte.“ Schon nach einigen Zeilen, weiß man als Leser, vor was Sal ihre kleine Schwester schützen muss, wenige Seiten später, als sie dem ersten Kaninchen über den Weg laufen, auch welche Tragödie sich vor der Flucht ereignet hat. „Ich hatte noch nie eins getötet. Und auch sonst nichts, außer Robert.“ Man kommt mit den beiden in den schottischen Highlands an, sucht und baut mit ihnen einen Unterschlupf und verbringt einige Tage mit Jagen, Angeln, Kampf gegen schlechtes Wetter und auch Gefahren. Man darf Sal auf dem beschwerlichen Weg ins nächste Dorf begleiten, um weitere Lebensmittel zu besorgen und im Internet danach zu forschen, ob und wer ihnen auf den Fersen ist. Man muss mit ihnen Angst haben, dass sie aufgespürt oder verraten werden, denn diese so deutlich spürbare große Geschwisterliebe darf auf gar keinen Fall zerrissen werden. Zudem macht man mit ihnen Bekanntschaft mit Ingrid, der Ärztin, die sich nach einem bewegten Leben ebenfalls dafür entschieden hat, in der Wildnis zu leben, was sich als Glücksfall erweist. Und letztendlich gilt es auch noch zu erfahren, ob Folgendes gelingen wird: „Und für meine Maw ist es wichtig, dass ihr dafür vergeben wird, dass sie keine richtige Mutter war.“ Ergänzt wird das Ganze noch durch Gedanken, Gespräche und so manche Gute Nacht Geschichte, die Rückblenden aus der Vergangenheit aller Beteiligten erzählen.

„Peppa isst alles, und sie hat IMMER Hunger. Als wir klein waren, hatten wir oft Hunger, weil Maw weg war oder betrunken oder wir kein Geld hatten, und Peppa ging dann zu irgendwelchen Nachbarn und fragte nach was zu essen. Sie lernte, alles zu essen, nicht wie die meisten Kids, die Salat hassen und nur Pommes wollen.“ Sal ist dreizehn, ein durchschnittlicher Teenager in ihrem Alter würde sicher nicht das meistern, was sie hier vollbringt, vielleicht wäre auch die eine oder andere Panne authentischer gewesen. Aber ich denke, wenn man schon als Kleinkind Verantwortung für sich und sein kleines Schwesterchen übernehmen, selbst für einen gefüllten Magen sowie eine saubere Wohnung sorgen muss, und man Lösungen und Antworten von klein auf nur im Internet gefunden hat, könnte man ihre Geschichte sicher noch als realistisch einstufen. Zumal, wenn man bedenkt, dass sie um die Verantwortung für ihre kleine Schwester weiß und diese über alles stellt. Mir hat es die Kehle fast zugeschnürt, als ich lesen musste, dass sie heimlich ein Schloss an deren Zimmertür angebracht hat, um sie vor Robert zu schützen, wie sie ihr in der Wildnis ihre Mütze gibt, weil es kalt ist, oder selbst darauf verzichtet etwas zu essen, weil Peppa ständig Hunger hat.

Der Autor hat mich mit seiner Geschichte sofort emotional gefangen. Die Mutter schwere Alkoholikerin, Sal und Peppa von unterschiedlichen Vätern, die sich längst aus dem Staub gemacht haben und ein neuer Liebhaber, der im Drogenrausch nicht nur die Mutter prügelt, sondern wenn diese im Alkoholkoma liegt, auch an Sal vergreift, wie schlimm können es Kinder treffen? Sätze wie „Früher habe das Sorgenmachen immer mit dem Timer auf meinem Handy gestoppt. Meist zehn Minuten jeden Morgen, aber in den letzten Wochen waren es mehr geworden.“, oder „Peppa hatte im selben Alter mit dem Weinen aufgehört wie ich, so mit acht, und seitdem haben wir beide nicht mehr geweint.“, haben mich mitten ins Herz getroffen. Ich habe mir oft Gedanken gemacht, wie Sal, das Mädchen, das sich so rührend um ihre Schwester kümmert, sagen kann, „Das Schwerste für mich war nicht, Robert zu töten oder Peppa zu erzählen, dass ich es tun würde, sondern Peppa zu erzählen, was Robert mit mir gemacht hatte und dass er gesagt hatte, er würde das bald auch mit ihr machen. Als ich es ihr erzählt hatte, sagte sie, >du musst ihn umbringen, Sal< und ich sagte, > ist gut.<“. Rechtfertige ich normalerweise auf gar keinen Fall einen Mord, hat es hier meiner Sympathie den Mädchen gegenüber nach einem kurzen Schockmoment keinen Abbruch getan. Die beiden, Sal noch mehr, haben sich sofort in mein Herz geschlichen, ich hätte sie am liebsten tröstend in den Arm genommen und ich habe mit ihnen gemeinsam diesen Roman durchlebt und gefühlt. Auch wenn es tolle Landschaftsbeschreibungen, einige wenige unbeschwerte Szenen, vor allem für Peppa, die wieder herzhaft lachen kann und auch dank Ingrid auch tatsächlich Glücksmomente für Sal gibt, ist dies alles andere als ein Gute Laune Roman. Ich habe den größten Teil wirklich tief betroffen gelesen. Nicht ganz so gut haben mir die Abschnitte gefallen, in denen Peppa von dem Buch „Entführt“ erzählt, das sie im Moment liest, aber diese sind zum Glück immer kurz, sodass sie auf keinen Fall Sterne kosten können. Nicht ganz so abrupt hätte es nach meinem Geschmack am Ende sein müssen, aber ich kann mit diesem leben.

Peppa hat Wespen im Hintern, eine total süße kleine Schwester, die man knuddeln könnte. Ich mochte sie von Anfang an gern. Auch sie hat es in einem solchen Elternhaus mehr als schlecht, aber mehr Mitleid hatte ich noch mit Sal. Hat Peppa ja noch sie, die sich um sie kümmert, erfährt Sal „nur“ die Zuneigung der kleinen Schwester, hat sie keine starke Schulter zum Anlehnen, die man in dem Alter auf jeden Fall noch braucht. Welch tolles Mädchen Sal ist, hat sich mir in ganz vielen kleinen Gesten gezeigt, in denen sie sich mit so viel Liebe um Peppa kümmert. Die Ärztin Ingrid habe ich erst ein wenig misstrauisch beäugt, dachte mir, was will die in der Geschichte. Aber ihr bewegendes Leben ist wirklich interessant und für die beiden Mädchen erweist sie sich als wahrer Glücksgriff. Die Mutter, für deren Alkoholleiden ich weniger Verständnis aufbringen kann, wie Sal, hat mich nicht nur einmal enttäuscht, Robert ist es in meinen Augen nicht wert erwähnt zu werden.

Alles in allem habe ich diesen bewegenden, traurigen Roman, der von so großer Geschwisterliebe, die alles gemeinsam überstehen lässt, erzählt, mehr als ergriffen verschlungen. Fünf Sterne, sind für mich hier gar keine Frage.