“Der künftige Mensch soll entschieden, fleißig und gutherzig sein” (S. 41)

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kleine hexe Avatar

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Dieser Spruch könnte so im Statut jeder kommunistischen Partei weltweit stehen. Er trieft vor Idealismus, Ignoranz und Unkenntnis des Menschen. Außerdem, es gibt keinen “zukünftigen” Menschen. Es gibt nur den Menschen im Hier und Jetzt. Samson, Nadejschda, Najden, die Rotarmisten, die Schneider, die Schuhmacher, die Kosaken und Weißgardisten leben im Hier und Jetzt des Jahres 1919. Der erste Weltkrieg ist gerade zu Ende und das zaristische Russland erlebt einen schrecklichen Bürgerkrieg, an dessen Ende nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Eine Gesellschaft bricht zusammen, und bis die neue Form an die Stelle treten kann, gibt es Chaos, Gewalt, das Gesetz des Stärkeren. Bolschewiken und
Weißrussen leisten sich heftige Kämpfe, fallen wiederholt in Kiew ein, versuchen es zurückzuerobern, ohne Rücksicht auf die Menschen, die hier leben. Mittendrin, Samson. Er hat Elektromaschinenbau studiert und hat allein mit seinem Vater gelebt. Mutter und Schwester starben früher. Kosaken erschlagen seinen Vater und hauen ihm ein Ohr ab, nun ist Samson auf sich allein gestellt. Er ist der Willkür der neuen Machthaber schutzlos ausgeliefert. Es nisten sich zwei Rotarmisten bei ihm ein, bedienen sich an seinen Sachen und Möbeln. Als sie der Schreibtisch des Vaters stört, wird der einfach von Ihnen der neu gegründeten Miliz gespendet. Samson rennt seinem Schreibtisch nach, kommt bei der Miliz
an und bleibt dort, als neuer Mitarbeiter. So schnell kann das in bewegten Zeiten gehen.
Intelligent, mit einer raschen Auffassungs- und Kombinationsgabe, gelingt es ihm einen Silberschmuggel, Diebstahl und Mord aufzuklären. Dabei, und jetzt nimmt der Roman Züge des russischen “magischen Realismus” an, kann er mit seinem abgeschlagenen Ohr Gespräche belauschen, die ihn betreffen. So z.B. kriegt er mit, wenn im Büro der Miliz über ihn gesprochen wird, wenn sein Ohr sich dort in einer Schublade befindet. Er wird nun das Ohr im Zimmer der Rotarmisten in seiner Wohnung verstecken und sie belauschen. Das alles klingt so natürlich, so selbstverständlich. Als ob ein abgeschlagenes Ohr immer in Verbindung mit seinem ehemaligen Besitzer bleibt und seine Funktion weiterhin erfüllt. Erst
im Nachhinein überlegt man sich: Wie soll das denn gehen? Aber dem Buch verleiht diese Eigenschaft fantastische Züge, die den Charme des Buches ausmachen.
Als Beweis, dass auch in Bürgerkriegszeiten die Liebe sich nicht unterdrücken lässt, entsteht die zarte Liebesgeschichte zwischen Nadjeschda und Samson. Zwei junge Menschen, die ihre Kräfte einerseits in den Dienst der Bolschewiken stellen, lernen sich kennen dank der Vermittlerin der Hausmeisterin von Samson. Nadjeschda ist linientreu, hat den Bolschewismus verinnerlicht, Samson ist eher "menschlich", möchte allen helfen, ohne Ansehen der Person.
Wie ein Terrier, der sich einmal festgebissen hat, kann Samson nicht locker lassen. Er verfolgt seine Fälle bis er alles restlos aufgeklärt hat und der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Sein Glaube an die Gerechtigkeit, jenseits aller Klassenideologie macht Samson so sympathisch. Nadjeschda eckt mit ihrer sturen Linientreue eher an. Aber sie ist naiv, der Bolschewismus noch in den Kinderschuhen, Stalins Terror noch einige Jahre weg. Es wäre
interessant zu beobachten, wie sich Nadjeschda weiter entwickeln wird.
Der lineare Erzählstil, der manchmal rasant die dramatischen Geschehnisse schildert, wird dann, in den Szenen mit Nadjeschda und ihrer Familie oder der Hausmeisterin, wieder sanft und warm. Andrej Kurkow reiht sich nahtlos in die lange Tradition der russischsprachigen Literatur ein. Der Roman trägt Wesenszüge der Literatur von Solschenizyn, Pasternak und Bulgakov.
Abschließend sei gesagt: Kiew hat in Moskau schon immer Begehrlichkeiten geweckt, schon seit Iwan des Schrecklichen Zeiten. Es folgte dann Stalin der Schreckliche und heute ist es Putin der Schreckliche, der seine Hände nicht von der Ukraine und Kiew lassen kann.