Ein Streifzug durchs rote Kiew

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1919, mitten in den Wirren der Russischen Revolution: Samson wird zum Vollwaisen und weiß im besetzten Kiew nicht recht weiter. Nach und nach werden die großen Wohnungen requiriert, auch bei ihm ziehen zwei Rotarmisten ein. Als er Wind davon bekommt, dass sie Waren schmuggeln wollen, meldet er das der Polizei - und wird prompt rekrutiert, den Fall selbst zu lösen.

Kurkow hat diesen Roman 2020 geschrieben. 2022 wurde er ins Deutsche übersetzt, und man liest ihn durch die Brille des anhaltenden Angriffskriegs auf die Ukraine. Es erscheint wie ein Fluch - fast genau 100 Jahre nach den im Buch geschilderten Ereignissen leidet die Ukraine wieder unter dem russischen Expansionismus. Näher am Puls der Zeit kann ein Roman kaum sein, und das auch noch unabsichtlich.

Kurkows Schilderungen des besetzten Kiew sind alles von tragisch bis komisch. Samson streift durch die Stadt und erlebt episodenhaft das Zeitgeschehen mit. Nur durch Zufall wird er selbst Teil davon, als er zur sowjetischen Polizei stößt. Das räumt ihm einige Privilegien ein, konfrontiert ihn aber auch unmittelbar mit der Überbürokratisierung und Unberechenbarkeit dieses Systems. Sein Fall führt ihn wiederum an merkwürdige Orte und zu merkwürdigen Menschen. Die Ermittlungen und die Auflösung sind letzten Endes nicht besonders interessant, als Kriminalfall ist dieser Roman mau. Aber als Streifzug durch das rot besetzte Kiew ist es eine lohnende Lektüre.

Was sich mir, aus diesem offenbar ersten Teil einer Reihe, nicht erschlossen hat, ist die Rolle der Nadeschda. Es bahnt sich zwischen den beiden zwar eine Freundschaft an, auch eine Liebesgeschichte ist sicher nicht fern, aber sie spielt bisher keine so tragende Rolle, dass ihr Name im Buchtitel viel Sinn machen würde. Auch die Beschreibung im Klappentext, dass sie ihm bei den Ermittlungen helfen würde, ist ziemlich verfehlt. Mein Eindruck ist, dass sie voll und ganz hinter der sowjetischen Idee steht, und das vielleicht noch Konfliktpotenzial für die Beziehung der beiden bergen wird.

Insgesamt ist Kurkow ein angenehm zu lesendes und dennoch eindrucksvolles Buch gelungen, das die Bezeichnung "Kriminalroman" weder benötigt noch sonderlich verdient. Gerade in der jetzigen Situation ist das Buch, und Kurkows Werk insgesamt, unbedingt lesenswert.