gelungene Groteske

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martinabade Avatar

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Die Veröffentlichungen ukrainischer Autoren oder ukrainischer Texte ist in den vergangenen Monaten spürbar angestiegen. Offensichtlich ist nun der Punkt gekommen, wo die deutschen Verlage uns Leser*innen besser mit der ukrainischen Literatur vertraut machen wollen. Bei Diogenes erscheint in diesen Tagen der erste Band einer Krimiserie von Andrej Kurkow. Der Journalist und Autor ist allerdings kein Neuzugang auf den deutschen Leselisten. Zahlreiche Romane, darunter „Picknick auf dem Eis“ und „Graue Bienen“ sind bereits in deutscher Sprache erschienen.

In der Ukraine liegen von der Serie „Samson und Nadjeschda“ insgesamt bereits drei Bände vor; weitere sind zurzeit nicht in Planung, denn, wie Kurkow in verschiedenen aktuellen Interviews u.a. im Berliner Tagesspiegel sagt, arbeite er aufgrund der aktuellen Situation in der Ukraine ausschließlich journalistisch. Er ist mit seiner Familie in den Westen der Ukraine geflüchtet, und als politischer Mensch reist er nach wie vor viel durch Europa, um über den Krieg in seinem Heimatland zu berichten.

Andrej Kurkow wurde 1961 in St. Petersburg geboren, lebt aber seit frühester Kindheit in Kiew und machte dort 1983 am dortigen Staatlichen Pädagogischen Fremdspracheninstitut seinen Abschluss. Er arbeitete in unterschiedlichen originellen Berufen und ist seit 1988 Mitglied des Londoner PEN-Clubs, seit 1996 lebt er zeitweise in London.

Doch nun zum Buch: „Samson und Nadjeschda“. Die Handlung ist in Kiew, im Mai 1919, angesiedelt. Gleich auf den ersten beiden Seiten verliert unser Held Samson seinen Vater und sein rechtes Ohr. Der behandelnde Arzt, dessen Fachgebiet eigentlich die Augen sind, weiß nicht, ob man das gute Stück wieder annähen kann. Also packt Samson das Sinnesorgan in eine Dose und nimmt es mit nach Hause, um den Kopf einen großen, weißen Verband. Die Täter zu verfolgen macht keinen Sinn, in Kiew herrscht Bürgerkrieg und die Kosaken, die „rote Gesetzlosigkeit“, sind über alle Berge. Spätestens jetzt wissen wir zwei Dinge: Wir müssen unbedingt nachschlagen, wer da im Jahr 1919 gegen wen in der Stadt Bürgerkrieg führt, und es wird klar, dass wir in einem 1A Schelmenroman gelandet sind. Herrlich abseitiger Humor, skurrile Charaktere und natürlich gibt es auch etwas mit Liebe.

Zwischen 1918 und 1921 herrschte Bürgerkrieg, als die Bolschewiki versuchten, die Ukraine zu übernehmen, was ihnen erst im vierten Anlauf gelang. Mit dieser Zeitgeschichte ist die Handlung eng verwoben, weswegen es so wichtig ist zu wissen, wer Freund, wer Feind ist. Gefährlich ist es allemal, aber unser Held hat Glück, ob Requirierung, Einquartierung oder Mordanschlag, er kommt gut aus der Sache heraus – dank seines rechten Ohres, das zwar in der Schreibtischschublade seines Vaters liegt, mit dem er aber immer noch prächtig hören kann. Zum Beispiel, was die beiden, bei ihm einquartierten Rotarmisten, Anton und Fjodor, so alles planen.

Und als der Zufall und die Tatsache, dass er gut schreiben kann, ihn in die Miliz führen, nimmt er Ermittlungen auf, die bald nicht mehr jedem richtig gut gefallen.

Ich musste mich erst in die Sprache und auch in den geschichtlichen Hintergrund einarbeiten und mich auf das Erzähltempo einstellen. Dann war es aber ein großes, nachdenkliches Lesevergnügen, mit zwei weiteren unerwähnten Protagonisten: dem allgegenwärtigen Tee und der Kiewer Straßenbahn.