Historisch und literarisch interessant, aber kein Krimi

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REZENSION – „Kriminalroman“ steht unter dem Titel. Doch der im Juli vom Diogenes Verlag veröffentlichte Roman des in Russland geborenen ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (61), den manche mit dem Japaner Haruki Murakami gleichsetzen, ist viel mehr als das: „Samson und Nadjeschda“ ist eine mit liebevoll charakterisierten Protagonisten besetzte Mischung aus Liebesgeschichte, historischem Roman und – ja, letztlich dies auch – einem Krimi. In seinem fast poetisch klingenden Sprachstil fühlt man sich an russische Klassiker erinnert.
Im nachrevolutionären russischen Bürgerkrieg (1918-1922), in dem die sowjetischen Bolschewiken gegen die unübersichtliche Gruppe aus Konservativen, Demokraten, gemäßigten Sozialisten, Nationalisten und Weißer Armee kämpften, hatten die Bolschewiken im Januar 1919 endlich die ukrainische Stadt Kiew erobert. Wenig später begegnen wir auf einer Straße dem jungen Samson und seinem verwitweten Vater ausgerechnet in jenem tragischen Moment, als Samsons Vater von marodierenden Rotarmisten ermordet und ihm selbst mit dem Säbel ein Ohr abgeschlagen wird. Dies ist die Schlüsselszene zum Auftakt einer Krimireihe, in deren Abfolge der nun zum Vollwaisen gewordene Samson eher zufällig und ohne jegliche fachliche Vorbildung in die gerade entstehende sowjetische Polizei aufgenommen wird. Eigentlich wollte er nur die beiden in seine Wohnung einquartierten diebischen Rotarmisten melden. Doch seinem künftigen Vorgesetzten Najden reicht schon Samsons Fähigkeit, gute Berichte zu formulieren, denn trotz aller Revolutionswirren scheint auch bei den Sowjets der Bürokratismus wichtiger als die Aufklärung von Kriminalfällen. War das von seinen unerwünschten „Untermietern“ in Samsons Wohnung abgestellte Diebesgut bisher sein alleiniges Problem, so wird die offizielle Ermittlung gegen die beiden Diebe nun unerwartet zum ersten Fall des völlig unerfahrenen Polizisten.
Schon allein die Tatsache, dass bis zur Aufnahme Samsons in die Polizei und zum Beginn seiner Ermittlungsarbeit etwa 90 der 370 Seiten zu lesen sind, lässt erkennen, das nicht der Kriminalfall im Zentrum des Romans steht, sondern Samsons Ermittlungen dem Roman seinen gestalterischen Rahmen geben. Im Grunde geht es dem Autor um die Darstellung der politisch wie gesellschaftlich vielschichtigen Situation in den Wirren des Bürgerkriegs, in dessen Verlauf es für die Bürger Kiews ziemlich unübersichtlich war, wer sie gerade beherrschte. Man tauschte zum Leben, was von Wert war, oder zahlte mit unterschiedlichen Währungen, verausgabt von bisherigen Regierungen, wobei der alte Rubel des untergegangenen Zarenreichs immer noch die stabilste Währung blieb.
Andrej Kurkow schafft es in seinem Buch, das Alltagsleben des Jahres 1919 in Kiew lebendig werden zu lassen und uns eingängig und authentisch die Probleme der Stadtbewohner zu schildern. Bald wird uns deutlich, dass sich die damalige Situation der ukrainischen Bevölkerung nur bedingt von der aktuellen Situation in den heute von russischen Truppen besetzten Ostprovinzen unterscheidet: Das Leben muss weitergehen, egal wer gerade die Stadt regiert. So absurd diese Situation damals wie heute ohnehin schon erscheint, steigert Andrej Kurkow dies ins Skurrile: So hört Polizist Samson ohne Ohrmuschel mehr als zuvor und kann durch sein abgeschlagenes Ohr, das er in einer Blechdose wechseln daheim oder im Büro aufbewahrt, trotz körperlicher Abwesenheit sogar das dortige Geschehen mithören – die Vorstufe heutiger Abhörmechanismen.
Wer in „Samson und Nadjeschda“ einen typischen Kriminalroman erwartet, wird also enttäuscht sein, zumal der von Samson zu lösende Fall keinerlei Dramatik bietet und der Roman insgesamt einige Längen hat. Auch die Figur der Nadjeschda – obwohl im Titel gleichberechtigt neben Samson – kommt hier noch zu kurz. Doch als Auftakt einer noch ausbaufähigen Krimireihe macht dieser erste Band auf die Fortsetzung neugierig: Denn während Samsons Abwesenheit wird sein Büro-Schreibtisch von Unbekannten durchwühlt. „Er [Samson] lauschte der Stille, die im Dienstzimmer zurückblieb, nachdem die Unbekannten es verlassen hatten. Und er lauschte der Stille im Schlafzimmer seiner Eltern, wo die Stille durch Nadjeschdas gleichmäßiges, leises Atmen wärmer und vertrauter klang. Ende. Fortsetzung folgt.“