mehr Roman als Krimi, lesenswert

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
hiclaire Avatar

Von

Andrej Kurkow ist ein großartiger Erzähler, den ich bisher nur dem Namen nach kannte, und bin gespannt auf seine weiteren Romane, nachdem ich diesen hier wirklich sehr gern und mit großem Vergnügen gelesen habe.

Es dauert eine geraume Weile, bis der Krimifaden an Bedeutung gewinnt und auch dann verlief der Spannungsbogen für meinen Geschmack eher moderat. Was jedoch in meinen Augen keine große Rolle gespielt hat. Dieser Roman hat mich in erster Linie durch seine Erzählweise beeindruckt, die sicher nicht jedermanns Geschmack trifft, mir hat sie in ihrer eigenwilligen Art gut gefallen. Unaufgeregt, auch in „aufregenden“ Momenten, das mag ich generell und es passt hier recht genau zu der Mentalität der Menschen in diesen turbulenten Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit, in denen das Chaos allgegenwärtig ist. Anders kommt man da wohl nicht durch ohne unterzugehen oder zu verzweifeln. Atmosphäre und Menschen sind gut eingefangen, von resigniertem Pragmatismus über Entwurzelung und vorsichtigen Optimismus.

Der junge Samson hat davon geträumt Elektroingenieur zu werden, doch der Verlust seiner Eltern und die Wirren des Krieges haben ihn letztlich zu den Ermittlern der Miliz gebracht. Er ist gewissenhaft und loyal und in der Lage seinen Verstand zu gebrauchen. Dazu verfügt er über eine gewisse Intuition, und dann ist da noch die Sache mit dem verlorenen Ohr… Irgendwie genießt er schon den Status und die Autorität, die sein neuer Job mit sich bringt, aber er ist definitiv zu anständig um sie zu missbrauchen, nicht unbedingt selbstverständlich in dieser Zeit. Trotz gelegentlicher Unsicherheiten, schließlich kommt er ziemlich unverhofft und ohne größere Einweisung oder gar Ausbildung an diesen Job, erweist er sich als findiger Ermittler. Sehr cool, wie er sich des Rätsels Lösung beharrlich und Stück für Stück annähert.

Nadeschda tritt recht bald in sein Leben, bleibt aber noch etwas im Hintergrund. Sie wird ihr Potential als Figur vermutlich erst in den Fortsetzungen stärker ausleben. Hier geht es in erster Linie um Samson.
Sinnlosigkeit und Absurdität von Krieg schimmern durch die Zeilen, nicht explizit, jedoch erkennbar, und auch ein Hauch von Hoffnung auf bessere Zeiten.

Die Örtlichkeiten, speziell die vielen Straßennamen, hätten für mich weniger präsent sein dürfen, aber darüber lässt sich ja hinweglesen. Wenngleich mich von Zeit zu Zeit der Ehrgeiz gepackt hat, einen Zungenbrecher wie z. B. Kruglouniwersitetskaja flüssig über die Lippen zu bringen *gg*, was eine gewisse Übung verlangt und stets eine Weile gedauert hat.

Eine lesenswerte Geschichte, angesiedelt in Kiew im Jahr 1919, angenehm abweichend von aktuellen „Mainstreams“, die sich nicht so leicht in eine Schublade stecken lässt.