Hält, was der Titel verspricht

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anna625 Avatar

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Dass das Thema "Schwangerschaftsabbruch" nicht immer mit Pauken und Trompeten besprochen werden muss, zeigt Marta Orriols in ihrem neuen Roman ganz wunderbar. Behutsam führt die Autorin an die Fragen und Ungewissheiten heran, die mit einer ungeplanten Schwangerschaft einhergehen können. Im Zentrum stehen dabei Marta und Daniel, beide Anfang 30, beide mehr oder weniger zufrieden und erfolgreich in ihrem Job. Seit etwa 2 Jahren sind sie zusammen, das Thema "Kinder - ja oder nein" kam bisher nie auf den Tisch. Und dann, plötzlich, der positive Schwangerschaftstest.
Marta weiß: Sie will das Kind nicht.
Daniel weiß: Er will das Kind.

Was nun? Während der sechs verbliebenen Tage bis zum geplanten Termin in der Klinik begleitet man als Leser*in das junge Paar. Dabei plädiert der Roman weder klar für die eine, noch für die andere Seite. Und das ist wunderbar erfrischend, weil man sich als Leser*in nicht in die eine oder andere Richtung gedrängt fühlt, sondern Zeit bekommt, sich selbst ein Bild zu machen. Ganz ohne den Zwang, sofort ein Urteil fällen, eine Entscheidung treffen zu müssen.
Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass der Roman weniger ein "So-soll-es-sein" als vielmehr ein "So-ist-es-tatsächlich" skizziert. Denn ja, in der Realität haben wir selten das Privileg, uns nicht klar positionieren zu müssen; und dennoch, ich glaube, dass wir uns gerade deshalb häufig in gewisser Weise dazu verpflichtet fühlen, eine bestimmte Meinung anzunehmen. Weil diese Meinung die ist, die allgemein anerkannt ist. "Sanfte Einführung ins Chaos" verlangt das aber nicht von uns. Der Roman prangert nicht die an, deren Meinung anders aussieht. Statt zu sagen, wie wir die Dinge sehen und uns verhalten sollen, und alles an diesem Maßstab zu messen, zeigt Orriols die Ich-Bezogenheit und den Egoismus, der heimlich in vielen schlummert und aus dem Gefühl einer Pflicht zur Anpassung heraus in der Regel totgeschwiegen wird.

Sicherlich gibt es einige Punkte, die man am Roman kritisieren kann; dennoch finde ich, dass der Autorin hier eine gute und einfühlsame Heranführung an das Thema gelungen ist. Und genau das verspricht der Titel ja auch immerhin.