Die Kehrseite der Armenhilfe

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mythenmetzfan Avatar

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Mit "Schamland" will Stefan Selke uns alle wachrütteln. Uns, denen es gut geht, obwohl wir es oft nicht erkennen und an allem rumjammern. Aber auch uns, die wir uns ehrenamtlich betätigen oder es vorhaben, weil wir meinen damit allen etwas Gutes zu tun und von allen viel Dankbarkeit erwarten zu können. Das ist mitnichten so, das zeigt sich schon auf den ersten paar Seiten der Leseprobe. Die meisten Menschen, die von Armut oder Krankheit in ein System wie das der Almosen und der Tafeln hineingedrängt werden, kommen oft nie wieder aus diesem System und deswegen auch nicht mehr aus der Armut heraus, obwohl sie es möchten, sich anstrengen und tun, was sie nur können. Viele, die auch wegen ihres Alters oder chronischer Krankheiten keine Hoffnung mehr haben aus dem System oder der Armut herauszukommen, verfallen immer mehr in Verzweiflung und auch in Hass gegenüber allem, der Gesellschaft, dem Staat, den Menschen, denen es besser geht, oder gegenüber Ausländern. Dass das eine gefährliche Situation ist, zeigt uns nicht nur die Geschichte.

Den meisten, wie auch mir, war vor der Lektüre dieses Buches nicht klar, dass caritative Systeme auch eine Kehrseite haben. Tafeln und andere solche Organisationen verteilen zwar Lebensmittel und die nötigsten Sachen für einen geringen, oft symbolischen, Betrag an die, die sich diese Sachen in normalen Geschäften nicht leisten können. Doch eigenlich - und daran denken die wenigsten - wäre es doch Aufgabe unseres "Sozialstaates" dafür zu sorgen, dass die sogenannte Grundversorgung, die diese Menschen meist bekommen, auch wenigstens für die alltäglichsten Dinge und Lebensmittel ausreicht. Dass diese Grundversorgung nicht ausreicht heißt also nicht, dass es mehr wohltätige Organisationen geben sollte, die diese Menschen auffangen, sondern dass an unserem ganzen politischen und sozialen System etwas nicht stimmt und unbedingt etwas verändert werden muss. 

In seinem Buch prangert Stefan Selke all diese Missstände an, indem er diejenigen zu Wort kommen lässt, die normalerweise schweigen und sich für etwas schämen, wofür sie eigentlich nichts können: Die Betroffenen. Das macht er sehr gut, sehr direkt, mit Gesprächen und Anekdoten. Anfangs, wie ich finde, stilistisch etwas holprig, wahrscheinlich weil er so voll Gefühl und so wütend über all das ist. Aber schnell wird sein Schreibstil sicherer und unterhaltsamer. Insgesamt, auf den ersten Eindruck, gut zu lesen, aber eine schockierende und traurige Kost.