Beklemmend, erschreckend, aufrüttelnd

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darki Avatar

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Ich habe dieses Buch vorab gelesen und bewertet und freute mich schon darauf, dass es bald herauskommt. Denn ich hätte dieses Buch auch ganz sicher gekauft, wenn ich es nicht glücklicherweise gewonnen hätte.

Schon der Auszug hat mich so gefesselt, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht.
Der Autor Stefan Selke beschäftigt sich nun seit über 20 Jahren mit dem Thema Tafel. Er hat hier ein Buch geschrieben, das einem die Augen öffnet und einen immer wieder den Kopf schütteln lässt aufgrund der Dinge, die er schonungslos darlegt und die hier passieren. Direkt unter uns und nebenan. Ohne, dass wir davon wirklich etwas mitbekommen.

So lässt er die Tafelnutzer selbst zu Wort kommen und hier wird deutlich, dass eben nicht alles Gold ist, was glänzt. Ich hatte eigentlich auch immer eine recht hohe Meinung von den Tafeln. Aber wer, wenn nicht die Betroffenen selbst können genau beschreiben, was dort passiert und wie die ganze Nutzung der Tafel und anderen sozialen Einrichtungen wie Suppenküchen vor sich geht!? Beschrieben wird auch, wie die Nutzer der Tafeln teilweise behandelt werden. Hier wird aber nicht verallgemeinert, sondern klar gemacht, dass dies natürlich nicht in jeder Tafel der Fall ist. Wenn allerdings solche Dinge in nur wenigen Tafeln auftauchen, ist dies auch schon ein großer Aufreger. So werden nach Selke, die Bedürftigen teilweise mit Armbinden oder Buttons ausgestattet, damit die Helfer an der Ausgabe schneller wissen, um was für eine Person es sich handelt (mit Kindern, ohne Kinder, alleinstehend usw.). Bei mir weckte diese Erzeugung eines Stigmatas nur eine Assoziazion…

Das Buch beginnt zunächst mit dem Kapitel „Armut mitten unter uns“. Hier werden von Stefan Selke die Fakten aufgelistet. Schon hier bekommt man den beklemmenden Eindruck, dass man wenige Informationen über die wirkliche Lage in Deutschland bekommt, wenn man sich nur allein die Nachrichten ansieht.

In den nächsten beiden Kapiteln („Trostbrot“ und „Der Chor der Tafelnutzer“) lässt Selke die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Er führte dazu eine ganze Reihe von Interviews. Beim Lesen habe ich immer wieder Angst bekommen. Angst deshalb, weil viele der Tafelnutzer von heute auf morgen alles verloren haben. So macht oft eine plötzlich eintretende Krankheit alles zunichte, was man sich vorher aufgebaut hat. Und leider werden auch diese Menschen in den gleichen Topf geworfen mit den wenigen Menschen, die tatsächlich keine Lust haben zu arbeiten und sich vom Staat aushalten lassen. Auch diese Menschen werden stigmatisiert, weil sie keinen Job haben und keine andere Möglichkeit mehr haben, als ihr Essen in einer Tafel zu besorgen. Verärgert hat mich auch die Geschichte eines Studentenpärchens, dass kein Bafög mehr bekommt, weil sie es leider gewagt haben, erst zu heiraten und dann zu studieren. Denn verheiratete Studenten bekommen eben kein Bafög. Und da sie nun auch noch ein Kind haben und eins unterwegs ist, sind sie gezwungen, auch zur Tafel zu gehen, obwohl sie eigentlich alle Attribute aufweisen, die die Gesellschaft als so hoch anerkannt darstellt. Nämlich Studium, Heirat, Kinder. Nur haben sie eine falsche Reihenfolge dafür gewählt. Hier wird deutlich, wie sehr der Staat jedem Menschen eine Lebensplanung quasi aufdrückt. Handelt man anders, dann muss man eben sehen, wo man bleibt.
Sehr erschreckend fand ich auch die Beschreibung der Suppenküchen. Hier erzählten einige Nutzer, dass es verboten sei, nicht aufzuessen, weil man sonst für mehrere Wochen oder auch Monate gesperrt wird. Auch die Weitergabe von Speisen an andere noch hungrige Nutzer sei verboten und werde bestraft. Dies sind wirklich erschütternde Beschreibungen.

Im Kapitel „Chor der Tafelnutzer“ schreibt Stefan Selke aus der „Wir – Perspektive“. Er hat hier viele viele Zitate von Tafelnutzern zu einem fortlaufenden Text zusammengefasst. Gerade diese „Wir – Sicht“ macht dieses Kapitel besonders beklemmend.
Das Kapitel „Zurückbleiben bitte“ liefert einen kurzen geschichtlichen Abriss der und wie mit Armut zu verschiedenen Epochen umgegangen wurde. Auch auf die Themen Altersarmut und Hartz IV wird eingegangen.

Alles in allem kann man nur sagen, dass dieses Buch extrem nachdenklich stimmt. Man merkt, dass es nur einer Kleinigkeit bedarf, um in den Strudel nach unten zu geraten. Erschreckend ist auch, dass es oftmals kein Zurück gibt.
Ich kann nur dazu ermuntern, dieses Buch zu lesen. Es ermöglicht, einmal über den Tellerrand hinauszuschauen und beleuchtet einen Teil von unserem Land und unserer Politik sehr kritisch. Und genau dieser Teil nämlich die Armut mitten unter uns wird oft sehr stiefmütterlich behandelt oder animiert eher zum beschämten wegschauen. Hier erfährt man nun einmal die Geschichten der Betroffenen. Und zwar nicht von außen betrachtet, sondern von eben diesen Betroffenen selbst erzählt. Und gerade das lässt niemanden kalt.
Man lässt sich so schnell zu Urteilen hinreißen wie „Warum bewerben die sich nicht einfach“ oder „Die wollen doch gar nicht arbeiten“. Hier erfährt man, dass dies nur ein verschwindend kleiner Teil der Gesellschaft ist, der bewusst nicht arbeiten WILL.
Stefan Selke schreibt flüssig und verständlich und lässt zu keiner Zeit den Eindruck von zu langatmigen Beschreibungen aufkommen. Fazit von mir: absolut lesenswert!