Die Armut mitten unter uns

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Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt und trotzdem gibt es Menschen, die trotz Grundsicherung nicht genug zum Leben haben, die auf die Almosen anderer angewiesen sind. Der Soziologe Stefan Selke ist in seiner vorlesungsfreien Zeit durch das Land gereist und hat die besucht, die mitten unter uns leben, und doch nicht mehr dazu gehören. In diesem Buch erzählt er ihre Geschichten. Er hat Tafeln und andere private Organisationen besucht, die mehr und mehr die Aufgaben des Staates, der ein „würdevolles Leben" zu garantieren hat, übernehmen. Und die mittlerweile mehr zu einem Förderer der Armut geworden sind, anstatt sie zu bekämpfen.

Man merkt, dass hier ein Wissenschaftler am Werk war. Das Buch ist übersichtlich gegliedert, in 5 Kapitel mit ihren jeweiligen Abschnitten. Im Anhang finden sich Anmerkungen mit Fußnoten und Erläuterungen. Zwar schreibt Stefan Selke in seinem Vorwort, dass er "auf die polierte Optik unnötiger Fachbegriffe" verzichten wollte, dennoch hatte ich beim Lesen öfters das Gefühl, dass ich lieber vorher ein paar Soziologie-Vorlesungen hätte besuchen sollen, damit ich überhaupt verstehe, worum es geht. Dies ist kein Buch zum "entspannt nach der Arbeit Lesen", der Stil wirkt sehr akademisch. Hätte ich nicht schon vorher in das zweite Kapitel reingelesen, hätte ich wahrscheinlich schon im ersten Kapitel aufgegeben. Glücklicherweise ist nicht das ganze Buch so gehalten, tatsächlich wird es sogar in den Kapiteln, in denen die „Betroffenen" selbst zu Wort kommen, sehr emotional und man merkt hier, dass auch der Autor gefühlsmäßig betroffen ist.

Beeindruckt haben mich deswegen auch vor allem das zweite Kapitel, in dem Selke die Geschichten einiger Tafelnutzer erzählt, mit denen er auf seinen Reisen gesprochen hat, und das dritte Kapitel, der „Chor der Tafelnutzer". Mit dem „Stilmittel des vielstimmigen Chors" fasst er die einzelnen Aussagen, die allgemeingültig sind, zusammen und wechselt vom einzelnen „Ich" zum vielstimmigen „Wir". Der Eindringlichkeit dieser Aussagen kann man sich schwer entziehen.

Aber so beeindruckend das Buch auch ist, bleiben für mich doch einige Fragen offen. Der Zweck das Buches ist klar, es soll den Armen eine Stimme gegeben werden, und das ist auch eindeutig gelungen. Aber ich frage mich, für welche Leserschaft das Buch eigentlich gedacht ist? Tafelnutzer werden sich das Buch nicht leisten können, der Preis legt von vorne herein einen bestimmten Leserkreis fest. Politiker? Vielleicht werden tatsächlich ein paar das Buch lesen, aber wird das irgendetwas ändern? Ist das schon jemals vorgekommen? Was sollen Tafelmitarbeiter machen, die dieses Buch lesen? Die Tafeln abschaffen kann man nicht, denn sie werden gebraucht, dass ist ja der eigentliche Skandal. "Den Armen auf Augenhöhe begegnen", wie soll das in einer Einrichtung wie der Tafel überhaupt möglich sein? Gerade von einem Soziologie-Professor hätte ich ein paar Vorschläge erwartet, wie man die jetzige Situation ändern kann.

Fazit: Ich habe in dem Buch vieles gelesen, von dem ich vorher keine Ahnung hatte, auch Vieles, über das ich mir nie Gedanken gemacht habe. Es hat mich eindeutig zum Nachdenken gebracht. Das Buch ist keine einfache Lektüre, einmal wegen des Stils, und zum anderen, weil die beiden Kapitel, in denen die Betroffenen selbst zu Wort kommen, emotional aufgeladen sind. Gerade der Abschnitt "Chor der Tafelnutzer" ist sehr aufwühlend. Was mir fehlt, und das gerade von einem Soziologie-Professor, sind Vorschläge, wie der jetzige Zustand zu ändern wäre.
Alles in allem aber, ein wichtiges und aufwühlendes Buch, das Beachtung finden sollte.