Ein Blick in eine Parallelwelt

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phoenix84 Avatar

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Im Sachbuch "Schamland" von Stefan Selke wird ein Thema behandelt, was im Wohlstandsland Deutschland gerne tot geschwiegen wird : Die Armut mitten unter uns.
Der Autor möchte einen Zustand anklagen, den es eigentlich nicht geben dürfte und lässt diejenigen zu Wort kommen, die in einer Parallelgesellschaft leben, dem hier betitelten Schamland- wie es in dicken roten Lettern schon vom Buchdeckel schreit.

Gleich im Vorwort wird klar, dass der Autor zwar sachlich und wissenschaftlich an das Thema heran führen möchte, aber trotzdem ein gutes Stück Wut mit einfließen lässt. Wut, die auf seiner persönlichen Reise vom erbosten Abiturienten, der zum ersten Mal einen Menschen sieht, der im Müll nach Essbarem sucht, hin zum Sprachrohr der " Armen" mitten unter uns , eine Triebfeder ist. Wir begleiten Stefan Selke quer durch Deutschland, ein Land welches Stolz auf sein soziales Versorgungsnetz ist und stolz darauf, die " Bedürftigen" mittels Tafeln versorgen zu können.

Der Autor demontiert dieses Bild , indem er den " Chor der Tafelnutzer " sprechen lässt; für mich das wichtigste Kapitel des Buches, da dort anschaulich die einzelnen Stationen vom " Normalbürger" zum " Tafelnutzer" gezeigt werden und die Falle, in der man droht zu versinken. Die Falle, die sich Abgrenzung, Scham und Demütigung nennt. Der vielgerühmte Sozialstaat hat diese Menschen vergessen, er sorgt nicht länger für sie und stützt sich stattdessen mehr und mehr auf die Tafeln, die zusätzlich zur Grundsicherung eine Alternative bieten sollen. Hierbei wird jedoch nur verdeckt, dass die Menschen nicht von dem leben können, was der Staat ihnen bereit ist,zu geben. Eine Staatspflicht wird so in private Hände gegeben und unter dem Deckmäntelchen des Ehrenamtes und Wohltätertums können die Tafeln gleichsam als eine Art Opium fürs Volk agieren. Warum mehr in Menschen investieren, die ökonomisch keinen Nutzen mehr haben und einfach mit aussortierten Lebensmitteln abgespeist werden können? Menschen, die aus Scham nicht mehr für sich selbst einstehen können und wollen und in einer unsichtbaren Parallelgesellschaft existieren.

Die Sprache, die der Autor wählt, ist vielfach der Sprache eines Wissenschaftlers entlehnt, aber dabei nie so kompliziert, dass man ein Wörterbuch zu Rate ziehen müsste. Laut Selke selbst soll das Buch schließlich allen zugänglich sein. Das ist meiner Meinung nach auch gegeben. Was mich gegen Ende des Buches etwas gestört hat, ist das Gefühl, dass Thesen und Aussagen wiederholt werden; wenngleich die Aussagen auch immer etwas anders formuliert werden, war mir eigentlich schon in der Hälfte das Buches klar, worauf Selke hinaus möchte. Ich hätte keine weitere Untermauerung gebraucht aber vermutlich prägt sich so die problematische Thematik der neuen sozialen Frage besser ein. Dieses Buch will schließlich nicht leise daher kommen, sondern unbequem und radikal den Leser mit Fakten und Fragen konfrontieren, die lange nachhallen.

Für mich war dieses Buch ein Augenöffner, denn auch ich habe nicht wirklich wahr haben wollen, dass man sehr leicht in die Armut abrutschen kann. Man kann nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben, geschweige denn sich gesund erhalten und ernähren, wenn man gezwungen ist, Grundsicherung zu beziehen oder zu Billiglöhnen als Ein-Euro-Jobber zu arbeiten. Den Betroffenen haftet das Stigma an, selbst Schuld an ihrer Situation zu sein. Viel zu schnell werden diese Menschen als Schmarotzer oder Faulpelze abgewertet, während man sich als " arbeitender Normalbürger" darüber aufregt , " die auch noch durchfüttern zu müssen."
Bei vielen der Betroffenen erscheint mir das jedoch zweifelhaft: Gründe für das Abrutschen können zum Beispiel sein ->Krankheit, Brancheneinbrüche, ungeplante Kinder oder Über-bzw Unterqualifikation etc.
Wer keine Leistung bringen kann, ist es anscheinend nicht wert unterstützt zu werden.Man sollte dieses Buch gelesen haben.