Und die Menschenwürde? Weg!

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botte05 Avatar

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In seinem Buch „Schamland – Die Armut mitten unter uns“ gibt Stefan Selke aus Anlass des 20jährigen Bestehens der Tafeln in Deutschland den „Kunden“ eine Stimme. „Wir leben im Schamland. Wir werden nun sprechen, alle zusammen. Wir sind die, die seit Jahren Almosen in Empfang nehmen. Wir sind die Stimmen und das schlechte Gewissen der neuen sozialen Frage in Deutschland. Wir sind viele“ - Zitat Buchrücken.

In der Öffentlichkeit werden die mildtätigen Organisationen und deren Angebote mit Blick auf die ehrenamtlichen Helfer, Sponsoren und Vorstände positiv in den Fokus der Allgemeinheit gerückt. Was diese Hilfe mit unseren Mitmenschen macht, die auf diese Hilfen angewiesen sind, wird nicht hinterfragt. Und was dies über unsere Gesellschaft und Politik aussagt, ebenfalls nicht. In diese Informationslücke passt dieses Buch.

Seit 2006 beschäftigt sich der Autor intensiv mit der Frage, wie Armut im Reichtum möglich ist. Ein Jahr lang hat er in einer Lebensmittelausgabe hospitiert und wurde zu einem kritischen Beobachter dieses Systems. In den Jahren 2009 bis 2012 ist Prof. Stefan Selke in vorlesungsfreien Zeiten kreuz und quer durch Deutschland umher gereist und hat Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern etc. besucht und mit den Menschen gesprochen, welche diese Hilfsangebote in Anspruch nehmen müssen. Kernstück des Buches sind die Aussagen der Betroffenen, welche in der Regel schamhaft zurückgezogen stillschweigend leben und sich in der Anonymität der Vielen nun Gehör verschaffen können.

Das Buch gliedert sich in fünf Über-Kapitel, welche sich jeweils mit einem Themenkreis beschäftigen. Zunächst beleuchtet der Autor die Armut unter uns allgemein (Was ist Armut und welche Aufgabe hat die Politik?) und erläutert seine Reise. Kapitel 2 stellt dem Leser kurzbiographisch Mitmenschen vor, die unverschuldet „arm“ geworden sind. Hier fließen auch Begegnungen ein, die nicht nur bei Tafeln, sondern auch bei anderen vergleichbaren Hilfsangeboten zustande gekommen sind. Im nächsten Kapitel, im „Chor der Tafelnutzer“, werden unkommentiert Aussagen der Betroffenen zur Inanspruchnahme des Tafel-Angebotes zitiert, welche die sachliche und emotionale Lage dieser Menschen glasklar veranschaulicht. Im vierten Kapitel erläutert Selke, was die Armut mit den Leidtragenden macht, um im letzten Kapitel ein kritisches Fazit aus 20 Jahren Tafeln zu ziehen.

„Schamland“ ist ein gutes Buch und hat meine Erwartungen, welche ich aufgrund der Leseprobe gebildet habe, nicht nur erfüllt, sondern übertroffen. Es ist so verfasst, dass ich als Nicht-Soziologe sowie nicht promovierter und unstudierter Leser den Inhalt gut verstehen kann. Dieses Buch wühlt mich auf (das darf doch nicht wahr sein!), macht mich betroffen (bezüglich meiner unzureichenden Wahrnehmung) und auch wütend (fehlgeleitete Hilfe, fehlgeleitete Politik). Bis dato hatte ich zu Armut sowie den Tafeln und ähnlichen Hilfsangeboten eine sehr oberflächliche Meinung, wenn der Begriff „Meinung“ in diesem Zusammenhang überhaupt passt, da eine aktive Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht wirklich stattgefunden hat. Stefan Selke hat mir ein Instrument an die Hand gegeben, aus Sicht der Betroffenen ein Leben in Armut kennenzulernen und mit meinen Einschätzungen und Vorurteilen abzugleichen und diese in Frage zu stellen.

Natürlich hätte ich mir einen klar umrissenen Lösungsansatz gewünscht, welcher selbstverständlich ausbleibt. Der hinter allem steckende Skandal ist, dass die Politik in ihrem Elfenbeinturm gar nicht mehr zu wissen scheint, wie wir Bürger und hier insbesondere die Mitmenschen, welche an den Rand der Gesellschaft „verschoben“ werden, tatsächlich leben. So entstehen diskriminierende Aussagen führender Politiker und vor allem Gesetze, die an der Realität vorbei gehen. Darüber hinaus kommt die Politik der Erfüllung ihrer eigenen Sozialgesetzgebung nicht nach und fördert somit freiwillige Hilfsangebote wie z. B. die Tafeln, welche die staatlich gesetzlich verankerte Hilfestellung nicht garantieren können. Und dass diese mildtätige Hilfe nicht auf Augenhöhe, sondern oft auch „von oben herab“ erfolgt oder sogar als Machtposition missbraucht wird, liegt meiner Meinung nach leider im Wesen von uns Menschen.

Für wen ist nun dieses Buch? Ich denke, dieses Buch sollten „alle“ lesen. Da dieses Buch jedoch bedingt, sich mit einem unangenehmen Thema, welches den Leser im Idealfall nicht selbst betrifft, auseinanderzusetzen, ist dies unrealistisch. Wobei, eigentlich betrifft dieses Thema im Kern uns alle, da jeder unverschuldet in die Abwärtsspirale der Armut geraten kann. Und nur eine große Gemeinschaft kann eine politische Reform der Armutsökonomie erreichen.

Was mich betrifft, ist mit dem Lesen des Buches das Thema nicht abgeschlossen. Beim Lesen sind doch einige gesellschaftspolitische Fragen aufgetaucht, die für mich zu klären sind und eine kritische Hinterfragung, inwieweit ich tatsächlich Stefan Selke’s Aussagen so stehen lassen kann, muss auch noch erfolgen. Ich bin froh, dass ich dieses Buch vorab-lesen durfte. Sicherlich hätte ich im Bücherregal nicht danach gegriffen…

Rezension: Stefan Selke, Schamland, Verlag: Econ, Sachbuch, gebundene Ausgabe, 288 Seiten, 18,00 €, Erscheinungsdatum: 12.04.2013