Denn wir sind nie, was wir scheinen. (Zitat)

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barbara62 Avatar

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Ich muss zugeben, dass mir noch nie eine Rezension so schwergefallen ist wie bei diesem Buch, da ich mich dem Text oft nicht gewachsen fühlte. Ob das an meinem Intellekt oder am einfach völlig überzogenen Schreibstil des Autors liegt, mögen andere beurteilen. Doch während mich der Roman insgesamt einfach nicht fesseln konnte, war ich gleichzeitig versucht, unzählige wirklich großartige, oft sehr humorvolle Sätze und Passagen anzustreichen oder laut vorzulesen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Philipp Tingler ein hervorragender Kolumnist ist und ich seine Kolumnen mit Freude lesen würde, aber für einen ganzen Roman war es mir einfach zu viel.

Am besten hat mir das Anfangskapitel mit den letzten Stunden der Millvina Van Runkle gefallen, die in einer Schweizer Schönheitsklinik in Anwesenheit des Schriftstellers Oskar Canow und einer unerträglichen „Freundin“ wortreich ihr Leben aushaucht. Die bösartige Beschreibung einer Gesellschaftsschicht, in der alle dieselben Anwälte, Friseure, Psychotherapeuten und Dekorateure haben, alle das gleiche „alterslose, leicht amorphe Einheitsgesicht“, das vom Schönheitschirurgen „kunstvoll gelähmt“ wurde, und niemand ist, was er scheint, ist einfach herrlich zu lesen. Auch die folgende Beerdigung, kunstvoll und bis ins Detail von der Verstorbenen beim angesagtesten Dekorateur in Auftrag gegeben, bei der man eine Unzahl von Angehörigen dieser Gesellschaftssphäre näher kennenlernt, hat mich noch amüsiert. Die bösartige Vorstellung dieser wie auf einer Theaterbühne nacheinander aufmarschierenden Figuren ist äußerst unterhaltsam. Danach wurde es für mich jedoch immer zäher, obwohl die Idee der Psychotherapie i. V., die der etwas inspirationslose Schriftsteller Oskar Canow stellvertretend für seinen zu beschäftigten Freund und Schwiegersohn Millvinas, Viktor Hasenclever, antritt, eigentlich gut ist. Trotzdem habe ich mich durch das zweite Drittel des Buches nur gequält. Erst der letzte Teil, in dem der Schwindel auffliegt und der Psychotherapeut doch noch seine Qualitäten zeigen kann, war für mich wieder ansprechender.

In einem auf dem hinteren Umschlag abgedruckten Zitat lobt der WDR Philipp Tinglers „Ohr für Phrasen und hohles Geschwätz“ und seine umwerfend rasanten und komischen Dialoge. Ich möchte da nicht widersprechen, aber für mich sind 333 Seiten davon entschieden zu viel...

Ein Lob geht aber wie immer an den Kein & Aber Verlag für die hochwertige Ausstattung und Gestaltung dieses sehr gut in der Hand liegenden Buches. Es ist schön, dass es mutige Verlage gibt, die Romane abseits des Mainstreams in ihr Programm nehmen und ich bin sicher, dass es auch für dieses Buch ein Publikum gibt, nur gehöre ich eben nicht dazu.