eine ironisch-philosophische Abrechnung mit der Upper Class

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miro76 Avatar

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„Deshalb sterben wahrlich oberflächliche Menschen bisweilen mit mehr Anstand als manch vermeintlich Heiliger. Denn sie lassen auch den Tod nicht nah an sich heran. Und wenn diese Leute irgendetwas virtuos beherrschen, dann sind es Auftritte und Abtritte.“ (S. 16)

Auf ihrem Sterbebett vertraut Millvina van Runkle, eine Grand-Dame der Zürcher Gesellschaft, dem Schriftsteller Oskar Canow ihr wichtigstes Geheimnis an. Ihre Tochter Mildred ist adoptiert. Sie ist eigentlich die Tochter eines Hausmädchens. Das allerdings sollte Mildred niemals erfahren. Denn in ihren Kreisen ist es wichtig, dass man weiß wo man herkommt und wo man seinen Platz hat. Altes Geld wiegt schwerer als erarbeitetes.
Es würde Mildred völlig aus der Bahn werfen.
Mildred’s Leben verläuft im Moment sowieso nicht wie gewünscht. Millvinas Anwältin veräußert alles was nicht niet- und nagelfest ist und verschmälert so das Erbe und ihre Ehe mit Viktor läuft auch nicht zu ihrer Zufriedenheit. Deshalb soll Viktor eine Therapie machen.
Doch dieser spielt heimlich in einer Laientheatergruppe und möchte seine karge Freizeit lieber damit verbringen. Also greift er zu einer Finte. Er überredet seinen Freund Oskar an seiner Stelle die Therapie zu machen. Er solle ihre Eheprobleme einfach als seine ausgeben und ihm später bei Cocktails die Ratschläge des Therapeuten erläutern. Oskar, der seine Zeit gerne eingeteilt hat – als freischaffender Künstler kann der Tag ja lang werden – geht auf den Handel ein. Er erhofft sich neue Inspiration.
Oskars besondere Stellung „im Milieu der Nerze und Narkotika“ - er ist nicht wirklich drin, aber auch nicht draußen – ermöglicht ihm einen distanzierteren Blick auch sein Umfeld und aus den Gesprächen mit dem Therapeuten wird eine ironisch-philosophische Abhandlung über die Untiefen der Upper-Class-Seelen. Leider beginnt Oskar sich immer mehr in seinen Geschichten zu verheddern. Er gehört den Kreisen ja doch an und soll sich auch noch um die Eheprobleme seines Freundes kümmern.
Dass das Ganze in einem Desaster endet könnte, scheint absehbar. Aber wie damit umgegangen wird kommt dann doch überraschend!
Oskar Canow hat einen speziellen Charme, schwarzen Humor und einen ausgeprägten Hang zur Ironie. Ich habe mich königlich amüsiert bei der Lektüre. Es passiert nicht viel in Philipp Tinglers Roman, aber es gibt einige grandiose Erkenntnisse!
Ein Buch für alle die nicht dazu gehören und für die wenigen unter den Dazugehörenden, die über ausreichend Selbstironie verfügen um ihre gepflegte Indolenz beibehalten zu können