Seelenlose High Society

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sago Avatar

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Bei diesem speziellen Roman war ich hinsichtlich der Gesamtbewertung immer wieder schwankend. Streckenweise hat er mich so amüsiert, dass ich sicher war, das werden fünf Sterne! Gerade zum Ende hin wurde er aber dann doch etwas ennuierend, und ich hatte den Eindruck, dass die ohnehin überschaubare Handlung plötzlich planlos versickert. Sprachlich ist das Buch wirklich herausragend. Wer wie ich in seiner Jugend Marcel Prousts zehnbändiges Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gelesen hat, genießt es einfach, wenn ein Autor verschachtelte Sätze über die Seite mäandern lassen kann, ohne je den Überblick zu verlieren. Zudem richtet Philipp Tingler einen äußerst scharfsichtigen, beinahe sezierenden Blick auf die Schönen und Reichen, immer auf der Suche nach einer brillianten Pointe. Stets scheint durch, dass der Autor Kolumnist ist, und ich vermute, dass mir seinen Kolumnen sicher auch viel Vergnügen bereiten würden. Es tut mir aber leid, es sagen zu müssen: Die Grundidee kann einfach nicht ein ganzes Buch tragen.
Tatsächlich kann man die gesamte Handlung in nur wenigen Sätzen zusammenfassen: Die reiche Milvina van Runkle stirbt an der letzten ihrer zahlreichen Schönheits-OPs. Ihre Adovtivtochter Mildred weiß nicht, dass sie adoptiert ist. In Mildreds Ehe mit Viktor kriselt es so mächtig, dass sie Viktor zu einer Therapie drängt. Dieser probt jedoch heimlich für ein Theaterstück und hat dazu seiner Meinung nach keine Zeit. Daher entsendet er seiner Freund, den Schriftsteller Oskar Canow, zu einer Art Stellvertreter-Therapie. Oskar schildert dort die Probleme Viktors und Mildreds, als wären es die seiner eigenen Ehe mit Lauren. Oskar verstrickt sich immer mehr in die Therapie, während sein Wunsch nach schriftstellerischer Inspiration sich nicht erfüllt. Schließlich fliegt der Schwindel auf und Mildred erfährt sogar von der Adoption. Die Handlung nimmt dann noch einen eher unmotiviert wirkenden Schlenker in die USA.
Große Freude haben mir Beschreibungen wie diese bereitet: "Die knochige Gestalt wurde von einer unerhörten Strickjacke mit Zopfmuster umschlottert, deren unheilvolles Grau möglicherweise nur davon herrührte, dass sie zu oft gewaschen worden war." Die Beobachtungsgabe Tinglers ist einfach wunderbar, einen derartigen Gesprächspartner würde ich mir im Alltag einmal wünschen. Leider färbt die innere Leere seiner Protagonisten aber etwas ab und bewirkt eine gewisse Handlungsarmut.