Never complain, never explain!

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mammutkeks Avatar

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„Niemals klagen, niemals erklären“ – nach diesem Maßstab wurde Ruth Schönwald erzogen und diese Maßgabe hat sie auch in ihrem Leben durchgezogen – im Verhältnis zu ihrem Mann, ihren Kindern und Enkeln. Dass dadurch schon mal etwas unter den Tisch gekehrt wurde, ist ganz logisch.
Doch Ruth, eine der Hauptfiguren in Philipp Oehmkes Gesellschaftsroman „Schönwald“ lebt nach dem Motto: „Informationsmanagement war ihrer Ansicht nach Teil einer vernunftbegabten Zivilisation. Wenn jeder Mensch alles, was er dachte, alles, was er erlebte, mit jenen teilte, die ihm oder ihr am wichtigsten waren […], wären Schmerz und Leid allerorten. Ständig wäre man nicht nachvollziehbaren oder verletzenden Aktionen anderer ausgesetzt, und umgekehrt. Nicht alle der eigenen Handlungen waren anderen erklärbar. Dafür war der Mensch in all seinen externen Verstrickungen zu komplex.“ (s. 434)
Auch andere Figuren dieser Familiengeschichte möchten sich nicht erklären, wie z.B. Chris Schönwald, der älteste Sohn, der vom linksliberalen US-Linguistikprofessor zum Trump-Fürsprecher geworden ist, nachdem er seinen Posten verloren hat.
Oehmkes Roman wird als „kluger Blick auf unsere gesellschaftliche Gegenwart“ beschrieben – und viele der gegenwärtigen Diskussionen um LGBTQ, „kweer“, „Migrationshintergrund“, „wokeness“, Literatur, Nazivergangenheit und vieles mehr finden ihren Platz.
Mich hat der Einstieg mit dem „Nazigeld“, das den queeren Buchladen der Tochter der Schönwalds finanziert, allerdings auf eine falsche Fährte geführt – ich hatte mehr zu diesem Thema erwartet. Vor allem, weil in der Anlage der Diskussion im Buch auch die These mitschwingt, dass jede:r Deutsche ohne „Migrationshintergrund“ ja einen „Nazihintergrund“ haben müsse.
In „Schönwald“ gibt es viele spannende Themen, die Perspektivwechsel in der Erzählung haben eine eigene Dynamik entfaltet, die Personen allerdings nicht alle die nötige Tiefe erhalten. Einige Passagen bleiben auch unerklärlich – vielleicht wäre weniger thematische Vielfalt doch mehr gewesen. Und ich weiß immer noch nicht, wie ich die Einbindung des Hosen-Konzerts finden soll: Überflüssig oder faszinierend, dass Oehmke, der ja eine Tote-Hosen-Biografie geschrieben hat, sein Sujet auch in diesem Roman einen Platz gibt?
Mir hat die Lektüre von „Schönwald“ auf jeden Fall gefallen – insbesondere der Aspekt der Kommunikation oder Nichtkommunikation, das Vorhandensein von Geheimnissen zwischen den vertrauten Personen hat mich immer wieder zum Nachdenken angeregt. Stil und Thematik von „Schönwald“ machen den Roman für mich zu einer eindeutigen Leseempfehlung. Da kann man auch über einige logische Schwächen, kleinere Wiederholungen und Tippfehler hinwegsehen.