Begegnungen

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vanessa_91 Avatar

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Meine Meinung und Inhalt

"Noch nie war es vorgekommen, dass die Pflicht getan werden musste; so nannte man die Order, jeden, der sich
den Grenzen der Siedlung von außen näherte, sofort zu erschießen. Und es würde nicht vorkommen, war Sasha
sich sicher. Niemand wollte in diese Siedlung. Das System, das behauptete, das hier wäre einer der wenigen schönen,
lebenswerten Orte auf der Welt, log doch. Wenn es so wäre, müsste es doch irgendwann einmal jemand, der sich nach
einem besseren Leben sehnte, probieren. Tat aber keiner." (ZITAT)

Wir treffen als Leser von "Schweben" auf einen Roman, welcher sich scheinbar in einer dystopischen und zukunftsbasierten Welt abspielt.

Das Leben spielt sich in einer - nach einer Klimakatastrophe entstandenen - abgeschotteten Siedlung ab, in welcher es klare Regeln gibt. Verlassen werden darf diese nicht, auch Gewaltausübung wird hart bestraft. Augenscheinlich führen die Menschen dort ein friedliches Leben - wenn auch stark kontrolliert und überwacht.


"Ich hatte nie verstanden, warum das System das Museum nicht längst für etwas anderes nutzte oder den Bau nicht überhaupt niedergerissen hatte, denn eigentlich war es verboten, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Das gehörte zu den wenigen Regeln, die es in der Siedlung gab: kein Streben nach mehr, keine Akkumulation von Wissen um das Davor und Draußen. Verstöße gegen diese beiden Regeln wurden
allerdings kaum geahndet, einzig die Ausübung von Gewalt wurde hart bestraft." (ZITAT)


Amira Ben Saoud schreibt in der Ich-Perspektive. Die "namenlose" Protagonistin verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie für zahlende Kunden die Rolle von Frauen übernimmt, die aus deren Leben verschwunden sind. Diese “Begegnungen” dienen dazu, den Hinterbliebenen über ihren Verlust hinwegzuhelfen. Doch während eines neuen Auftrags beginnt sie, ihre eigene Identität und die Realität um sie herum infrage zu stellen.


Der Autorin gelingt es meisterhaft, grundlegende Fragen nach Identität und zwischenmenschlichen (auch toxischen) Beziehungen zu thematisieren. Die Protagonistin, die ihren eigenen Namen vergessen hat und erst durch ein Aufeinandertreffen einer Person aus der Vergangeheit wieder daran erinnert wird, verliert sich zunehmend in den Identitäten anderer, was die Leser:innen dazu anregt, über die Konstruktion des Selbst und die Bedeutung von Authentizität nachzudenken.


"Was ich vermisste, war, mich intensiv mit den Eigenheiten und Angewohnheiten einer Person zu befassen. Ich
vermisste es, mich innerlich und äußerlich zu verwandeln, bis ich mich selbst nicht mehr erkannte. Ich vermisste es,
ein anderer Mensch zu sein. Ich hatte ein Talent an mir entdeckt, das ich nicht ignorieren wollte, denn vielleicht
hatte ich nur das eine. Ich wollte es nutzen, allerdings zu meinen Bedingungen." (ZITAT)


Surreale Ereignisse die sich in plötzlich auftretenden Fähigkeiten der Bewohner widerspiegeln lassen einen als Leser überrascht, irritiert und verstört zurück.

“Schweben” ist kein Wohlfühlroman. Doch gerade diese Eigenschaften machen ihn zu einem lesenswerten Debüt.


Klappentext

Gewalt scheint nicht mehr zu existieren, der Klimawandel längst vollzogen. Eine bedrohliche Gelassenheit liegt über der abgeschotteten Siedlung, in der sie lebt. An ihren eigenen Namen hat sie keine Erinnerung mehr. Sie verdient ihr Geld damit, andere Frauen zu imitieren, deren Angehörige nicht mit dem Verlust der Geliebten, der Ehefrau, der Tochter zurechtkommen. Während eines neuen Auftrags gerät ihre Welt ins Wanken: Wer ist diese Emma, die sie spielt? Weisen seltsame Phänomene am Rand der Siedlung auf deren Untergang hin? Und warum ist sie selbst so besessen davon, eine andere zu sein? Amira Ben Saoud gelingt ein fesselndes Debüt, das schwebend leicht grundsätzliche Fragen nach Identität und Beziehungen stellt und danach, was wir uns selbst vorspielen.


Über die Autorin

Amira Ben Saoud, geboren 1989 in Waidhofen/Thaya, studierte Klassische Philologie, Kunstgeschichte und Komparatistik in Wien. Sie war Chefredakteurin des Popkulturmagazins The Gap und Kulturredakteurin beim Standard. »Schweben« ist ihr erster Roman.