Was kann ein Mensch ertragen?

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christian1977 Avatar

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Hanna Krause kann sich in den 1930er-Jahren endlich ihren Traum vom eigenen Blumenladen erfüllen. Zwar liegt das Geschäft im Magdeburger Armenviertel Knattergebirge, doch Männer mit einem schlechten Gewissen gibt es schließlich überall. So war es schon, als sie noch bei ihrer Halbschwester aushalf, und so ist es auch hier. In den Wirren und Bomben des Zweiten Weltkriegs verliert sie jedoch mehr als nur den Laden. Doch Hanna lässt sich nicht unterkriegen. Viele Jahre später ist der Nationalsozialismus längst Geschichte. Im Gegensatz zu Hanna, die in der DDR mittlerweile als Kranführerin tätig ist. Was hält ein Menschenleben aus, wie viel Leid, wie viele Verluste? Und was bringt eine Frau dazu, tagtäglich aufs Neue zu kämpfen? Darüber schreibt Annett Gröschner in ihrem neuen Roman "Schwebende Lasten", der bei C. H. Beck erschienen ist.

Ganze 13 Jahre ist es her, dass Gröschner mit "Walpurgisnacht" ihren bis dato letzten Roman vorlegte. Dass sie bereits vor zehn Jahren aus einem Manuskript von "Schwebende Lasten" vorlas, zeigt, wie lange sie an diesem Werk gearbeitet hat. Eine lohnenswerte Arbeit, denn das Buch ist mehr als ein Gesellschaftsbild oder das Porträt einer einzelnen starken Frau. Vielmehr setzt Gröschner indirekt damit all den Frauen und Arbeiterinnen ein Denkmal, die wie Hanna genau dieses wahnwitzige 20. Jahrhundert durch- und erleben mussten, ihre Kinder oftmals allein großzogen und dennoch zum Wiederaufbau des einen oder anderen Staates beitrugen. Dabei ist Hanna keine klassische Heldin, möchte sie auch gar nicht sein. Zum Schutz ihrer Familie schickt sie beispielsweise ein jüdisches Mädchen lieber zu den Nachbarn. Vielmehr ist Hanna Krause eine Kämpferin und Pragmatikerin, die sich aber stets das Gute bewahrt und - was schwierig genug war in jenen Zeiten - ihr moralisches Handeln nicht aus den Augen verlor.

Annett Gröschner zeichnet diese Hanna Krause mit wenigen Strichen lakonisch und mit einem rauen Charme, wie ihn nur die Menschen in Magdeburg aufweisen. Bereits der eindringliche Prolog setzt den Ton für die kommenden 280 Seiten. In ihm blickt Gröschner ohne große Ausschweifungen mal eben auf das, was da kommt - für Hanna, aber auch für die Leserinnen. Zwei Diktaturen, zwei Weltkriege, zwei Revolutionen, sechs Kinder: All das erlebt Hanna Krause, aber all das erleben sehr viele Frauen dieser Jahre. Und Hanna wird in diesen Zeiten viel verlieren: Kinder, ihr Geschäft, verschiedene Wohnungen, ihren Mann. Gröschner erzählt dies meist nüchtern, was erstaunlicherweise dennoch oder gerade deswegen wahnsinnig erschütternd oder auch mal komisch ist.

In der stärksten und zugleich schrecklichsten Szene des Romans wird Hanna im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Familie in einer Magdeburger Kirche verschüttet. Was folgt, brennt sich im wahrsten Sinne des Wortes in das Gedächtnis der Leserschaft ein und dürfte so schnell nicht wieder vergessen werden. Was hält eine Frau wie Hanna aus, aber was hält auch der Leser aus? In "Schwebende Lasten" machen beide weiter, um der Dinge zu trotzen, die da kommen, aber auch um Hanna und ihrer Familie beizustehen.

Blumig wird "Schwebende Lasten" im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich nur in den kleinen Notizbucheinträgen Hannas, die jedem der 25 Kapitel vorangestellt sind. Die Blumen sind Hannas große Liebe - mehr jedenfalls als ihr Ehemann Karl, ein Trinker und schwacher Mensch, aber einer mit dem Herzen am rechten oder linken Fleck. Die Blumen sind fast schon eigene kleine Hauptdarstellerinnen in diesem an Nebenfiguren reichen Werk. Da kann man als Leser schon mal durcheinanderkommen - bei den Blumen und bei den Menschen.

Und das ist dann auch schon der einzige kleinere Kritikpunkt an diesem Roman. Ist die erste Hälfte des Buches fast schon so etwas wie eine große Schulung in Empathie, zerfasert das Werk in der zweiten Hälfte an der ein oder anderen Stelle. Die Lebensläufe der Töchter, Enkelinnen und Urenkelinnen werden etwas stakkatohaft abgehandelt. Bei dieser überbordenden Weiblichkeit wusste ich plötzlich nicht mehr, wer nun Barbaras Kind war und wer Elisabeths. Und hatte Judith eigentlich eine Tochter oder Selma? Ein wenig aufgelockert werden können hätte der Text auch durch ein paar mehr Dialoge und weniger Nacherzählung.

Vor einigen Wochen las Annett Gröschner in Magdeburg von einem Kran. Sie hat es trotz Bauchschmerzen nicht bereut. Denn auch Hanna Krause, die Blumenbinderin und Kranführerin, hätte hier stehen können. Vielleicht hätte sie aus Thomas Manns "Buddenbrooks" vorgelesen, dem Buch, das sie so beeindruckte, weil die Probleme ihrer eigenen Familie ihrer Meinung nach so klein wirkten im Vergleich zu den Lübeckerinnen. Vielleicht hätte sie aber einfach auch nur ihre Schicht beendet und auf dem Rückweg nach Hause ein paar Setzlinge gestohlen. Denn eine Heldin war sie nicht, diese Hanna Krause.