Atmosphärisch und bedrückend

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happymountain Avatar

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#Rezension #Schweig #JudithMerchant #unbezahltewerbung

„Schweig!“ war mein erstes Buch von Judith Merchant. Kleiner Spoiler: Trotz Kritikpunkten wird es aber definitiv nicht mein Letztes sein. Und nun erkläre ich euch warum. Die Schwestern Esther und Sue berichten abwechselnd aus Ihrer Sicht und streuen immer wieder Erinnerungen ans letzte Weihnachtsfest oder an ihre Kindertage ein. Später kommen noch Kapitel aus Sicht von Martin hinzu. Er ist Esthers Ehemann und seine Kapitel fand ich besonders spannend - wieso müsst ihr selbst herausfinden. ;-) Seine Kapitel stellen oft alles auf den Kopf und fügen es nachher wieder zusammen. Das war klasse gelöst. Die Stimmung ist die ganze Zeit über bedrückend und teils auch bedrohlich. Man weiß etwas Schlimmes ist letztes Weihnachten passiert und etwas Schlimmes wird auch dieses Fest passieren, man weiß aber nicht wann oder warum und das macht es total genial. Die unheimliche Stimmung wird durch die Winterlandschaft und einen Schneesturm zusätzlich unterstrichen. Ein einsames Haus im Wald ohne Kontaktmöglichkeit nach Außen tut sein Übriges. Die düstere, drückende Atmosphäre, die die Autorin hier erzeugt hat, ist also durchaus gelungen und passt perfekt zur aktuellen Jahreszeit. Die Handlungsorte sind dabei auf wenige Orte begrenzt und lassen das Buch fast wie ein Kammerspiel anmuten. Das gefiel mir ausgesprochen gut. "Schweig!" ist einfach ein sehr gut konstruiertes Buch. Meine Sympathien beim Lesen des Buchs sind immer wieder von einer Schwester zu anderen gewandert, da Merchant so geschickt Informationen freigibt, dass ich nicht mehr wusste, wem ich trauen kann – und plötzlich sind die Sympathien dann (bei mir) gänzlich aufgebraucht gewesen, weil mir die Autorin von beiden Schwestern das Gegenteil der Schokoladenseite präsentierte. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick anmutet. Die Ursache der schwesterlichen Problembeziehung ist in der Kindheit zu finden. Dabei erzählt die Autorin die Geschichte der Familie raffiniert und lüftet nach und nach immer wieder kleine Geheimnisse, die ein komplett anderes Licht auf alles werfen. Und das nicht nur einmal. Leider verpasste es die Autorin in meinen Augen die Spannung anzuziehen. Auf ca. 200 Seiten passiert tatsächlich nicht sooo viel, erst im letzten Drittel wird es wirklich spannend. Ich habe ja schon erwähnt, dass die Sympathien für beide Schwestern bei mir irgendwann aufgebraucht waren. Das liegt tatsächlich auch einfach an dem Fakt, dass beide wirklich nicht sympathisch sind. Beide sind gehässig, manipulativ und vorallem Esther ist auch sehr übergriffig. Das machte es streckenweise schwer für mich mitzufiebern, weil ich beide halt nicht wirklich mochte. ‍ Übrigens habe ich eine Aversion gegen das Wort „Schnecke“ als Kosename entwickelt. Alle, die das Buch gelesen haben, werden wissen warum. Zum Glück hatte dieser Kosename später noch eine größere Bedeutung. Das hat die 200mal, die ich es lesen musste, dann doch etwas gerechtfertigt. Zum Ende hin spitzt sich die Lage zu und es kommt zur Katastrophe, die sich angebahnt hatte. Ich musste die letzten Seiten in einem Schwung lesen. Auch der Epilog, der ein Jahr nach den Ereignissen spielt, gefiel mir richtig gut. Nicht totaler Mindfuck, aber schon gelungen in meinen Augen. Ein absolut atmosphärisches, intensives Buch, das mich – zumindest stellenweise – begeistert hat und ich sehr gerne weiter empfehle! Ich denke hier und da gibt es Ausbaupotential… aber ich habe mich trotzdem gut unterhalten gefühlt und fand den Schreibstil der Autorin durchaus gelungen, sodass nun auch "Atme!" bei mir einziehen durfte.