Einzelkinder im Vorteil

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Der Titel ist zwar imperativisch unmissverständlich, lässt aber doch einiges an Themen zu. Hier geht es um zwei Schwestern und ihr schwieriges Verhältnis zueinander: Mitten im vorweihnachtlichen Stress sorgt Esther sich um ihre Schwester Sue, setzt sich ins Auto und fährt zu ihr. Es geht von der Stadt und wohlorganisierter Familie zu auf Tabletten angewiesen und allein in einem riesigen Haus mitten in der Einsamkeit des Waldes lebend, sehr unterschiedlich also. Doch so unterschiedlich die Schwestern auch sind, eins haben sie gemeinsam: Der Leser darf ihnen nicht so recht trauen … schnell wird Esther klar, dass Sue sie nicht da haben will, aber ein Schneesturm verhindert ihre Abreise, man kommt ins Gespräch, das Schicksal nimmt seinen Lauf …

Als Thriller stuft der Verlag das Genre ein, naja, da kann man geteilter Meinung sein: Spannend ja, psychologisch interessant ja, Thriller hm, das weckt m. E. falsche Erwartungen, wohingegen „Psychotrhiller“ schon passender wäre. Denn klar stehen die Psychospielchen der Schwestern im Vordergrund: Wie sich die Schwestern nach und nach immer mehr Vorwürfe machen, in die Geschehnisse ihrer Kindheit abtauchen und nur noch Gewalt als Lösung erscheint, ist geschickt gemacht, aber auch boshaft. Erzeugt wird die Spannung u. a. durch die Perspektivwechsel: mal erzählt Sue, dann Esther – jeweils auf unterschiedlichen Zeitebenen –, mal auch Esthers Mann bzw. „Ein Mädchen“. So fiebert man natürlich immer, wie es im anderen „Erzählstrang“ weitergeht und welcher der Schwestern man trauen kann. Außerdem ist das geradezu klassische Setting ganz im Stile alter Krimis (x Personen werden an einem Ort von der Außenwelt abgeschnitten) natürlich interessant. Letztes Puzzlestück ist Merchants Sprache: Durch lapidare kleine Andeutungen (wie „nicht alle werden Weihnachten überleben“) weckt sie Erwartungen, von denen man dann wissen will, ob sie zutreffend sind. Einen Abzug gibt es wegen der einen oder anderen Länge (das liegt für mich auch an der Sprache, die zwar einerseits genau so sein muss, mir aber zu wenig abwechslungsreich ist) und wegen des Endes, das ist einfach nicht rund; aber nach der Lektüre dürften Einzelkinder sich (erstmals) glücklich schätzen ...