Rotkäppchen und die böse Schwester

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suse9 Avatar

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Freunde kann man sich aussuchen, Familie nicht. Jeder weiß das und hat sicher schon das ein oder andere Mal frustriert über ein Familienmitglied geseufzt. Man kann sich also ziemlich gut in Esther hineinversetzen, als sie aus Pflichtgefühl am Tag vor Heiligabend zu ihrer kleinen Schwester Sue in den Wald fährt, um sich zu vergewissern, dass in dem einsamen Haus alles in Ordnung ist. Das Verhältnis der Beiden steht nicht zum Besten, und deshalb würde sie sich viel lieber um die vielen kleinen wichtigen Nebensächlichkeiten kümmern, die zu einem perfekten Weihnachtsfest gehören. Doch sie ist nun einmal die große Schwester und muss sich kümmern. Egal, ob das gewünscht wird oder nicht.

„Schweig“ ist ein spannendes Kammerstück, das den Leser tief in die Seelen der Protagonisten schauen lässt. Zwei Schwestern, die nicht miteinander reden möchten und es doch tun. Ereignisse aus der Vergangenheit werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und demnach auch verschieden wahrgenommen. Man ist hin- und hergerissen, wem man mehr Glauben schenken kann. Ich fand es unglaublich spannend, zwischen den Zeilen zu lesen und jedes noch so kleinste Detail zusammenzufügen.

„Schweig“ wird als Thriller beworben, aber ist es wirklich einer? Mit Sicherheit kein herkömmlicher, und vielleicht werden Fans dieses Genres enttäuscht Actionszenen und Verfolgungsjagden vermissen. In fast plauderndem Ton baut die Autorin jedoch langsam einen Spannungsbogen auf, der am Schluss zum Reißen gespannt ist.

Für mich war es die perfekte Mischung: ein ruhiger, unspektakulärer Schreibstil, der in Abgründe schauen lässt, die Mitleid, Wut und Angst erzeugen. Kurze Kapitel bringen schnelle Perspektivwechsel und mit ihnen ein Zweifeln am zuvor Gelesenen. Es gibt keine Schwarz-/Weiß-Charaktere, keine Vorhersehbarkeit und keinen Trost.