Die beste Dystopie/Utopie

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Rezension: Scythe – Die Hüter des Todes

Prämisse:

200 Jahre in der Zukunft wurden sämtliche Probleme der Menschheit gelöst, bis auf die Überbevölkerung. Um dem entgegenzuwirken, wurde das Scythetum gegründet deren Mitglieder – die Scythe – die Aufgabe haben,jedes Jahr eine bestimmte Anzahl von Menschen zu töten, um zumindest die Spitze des Bevölkerungswachstums zu glätten. Als Citra und Rowan für die Ausbildung zum Scythe ausgewählt werden, müssen sie bald feststellen, dass es – entgegen der Außenwahrnehmung – auch im Scythetum Korruption gibt, welche droht die hohen Ideale des Ordens zu verdrängen.


Positives:

Ich möchte meinen nun folgenden Lobgesang auf dieses Buch mit der Prämisse beginnen.
In einer Welt, in welcher nach dem großen Erfolg von „Die Tribute von Panem“ der Markt mit Jugenddystopien regelrecht überschwemmt wurde, viele davon jedoch von ihrer Prämisse her sehr ähnlich wirken, kommt „Scythe – Die Hüter des Todes“ erfrischend innovativ daher. Während in dem Großteil der üblichen Dystopien,ein böses Regime gestürzt werden muss, ist das Ziel in Scythe das System zu erhalten und vor der Korrumpierung zu bewahren. Auch wenn nicht alles perfekt ist, handelt es sich bei der Welt von Scythe eindeutig um eine Utopie. Selbst das Scythetum, welches in anderen Büchern dieser Art auf jeden Fall antagonistisch wäre, wird in diesem Buch differenziert bis erhaltenswert dargestellt.
Von der Prämisse gehe ich nahtlos zum Worldbuilding über. Während eine künstliche Superintelligenz namens Thunderhead die Welt wie ein Gott regiert, soll das Scythetum, wie bereits erwähnt, die Überbevölkerung im Zaum halten. Der Thunderhead spielt im Auftaktband der Trilogie, welchen dieses Buch darstellt, nur eine hintergründige Rolle, Darum werde ich mich in dieser Rezension eher auf das Scythetum konzentrieren. Was diesen Orden so unglaublich faszinierend macht ist allen voran seine augenscheinliche Ambivalenz. Scythe sind prinzipell Mörder, mit Opferzahlen die jeden Serienmörder vor Neid erblassen lassen würden, doch sie haben hohe moralische Grundsätze.

Auszug aus den Geboten der Scythe „2 Du sollst unvoreingenommen, besonnen und ohne böswillige Absichten töten. 6 Du sollst in Worten und Taten ein vorbildliches Leben führen.“


Versinnbildlicht wird dieser Aspekt auch durch das äußere der Scythe. Mit ihren Roben, deren Farbe sie frei wählen dürfen, erinnern sie an Gevatter Tod,jedoch tragen sie niemals Schwarz, denn „Schwarz, das war die Abwesenheit von Licht, und Scythe waren das Gegenteil. Sie waren lichtvoll und erleuchtet, sie galten als Krone der Menscheit – deshalb wurden sie auch für ihren Beruf erwählt.“ Zudem wird schnell deutlich, dass jeder Scythe sehr unter seiner Berufung leidet, was sie noch vielschichtiger macht.

„Wir sind angehalten, nicht nur unsere Taten, sondern auch unsere Gefühle aufzuschreiben, weil bekannt sein muss, dass wir Gefühle haben. Bedauern. Treue. Trauer, zu groß um sie zu ertragen.Denn wenn wir diese Gefühle nicht hätten, was für Monster wären wir?“

Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, hier sämtliche Aspekte aufzuzählen, welche das Scythetum derartig faszinierend machen und dass ist ja auch nicht der Sinn einer Rezension. Ich hoffe ich konnte dennoch einen guten Eindruck vom Scythetum vermitteln.
Aber auch abgesehen von den Scythe ist das Buch äußerst tiefgründig. Besonders die Tagebucheinträge, zumeist aus der Feder der ehrenwerten Scythe Marie Curie, welche in Form von Kapitelbrücken daherkommen, regen zum Nachdenken sowie philosophieren an. Des weiteren ermöglichen sie dem Leser einen guten Einblick in die Psyche des Verfassers.

„Wir sind nicht mehr dieselben Wesen wie früher.
Und wenn wir keine Menschen mehr sind, was sind wir dann?“

„Die Unsterblichkeit hat uns alle in Cartoonfiguren verwandelt.“

„Ich bin eine Legende. Und doch wünsche ich jeden Tag, ich wäre es nicht.“


Als nächstes werde ich zu der Form des Buchs kommen. Der Schreibstil von Neal Shustermann ist mein persönlicher Lieblingsschreibstil. Er ist flüssig und angenehm zu lesen und dennoch gelingt es dem Autor fast schon beiläufig und mühelos ein Zitat nach dem anderen in den Text einzuweben, welches auf die verschiedensten Weisen erinnerungswürdig ist.

„Ein Scythe ist nur das Werkzeug des Todes, doch ihr seid es, die meinen Arm bewegt.“

„Und die Scythe, der Erde erhabene Hüter des Todes, strömten hinaus, um sich für Kaffee und Donuts anzustellen.“

„Taubheit war nur ein graues Fegefeuer. Nein, es gab einen sehr viel schlimmeren Ort. Dunkelheit, die sich als Erleuchtung verkleidete.“

Das Buch ist in 5 Teile und 40 Kapitel mit einer angenehmen Länge aufgeteilt. Dazu kommen noch die bereits erwähnten Tagebucheinträge, welche auch häufig für Exposition verwendet werden. Auch diese ist meiner Ansicht nach hervorragend gelungen. Das wichtigste wird per Show vermittelt (beispielsweise die Eigenschaften des Antagonisten) oder in authentische Expositionsdialoge verpackt. Die Exposition in den Tagebucheinträgen wird zumeist, mitsamt, zum Nachdenken anregenden Inhalten, verabreicht. Meiner Ansicht nach ist „Scythe die Hüter des Todes“ eine pure Demonstration von herausragender schriftstellerischer Kompetenz.
Um nun endlich zu der Geschichte zu kommen, sei zu Anfang gesagt: Wer Hochspannung auf jeder Seite oder zahlreiche „coole“ Kämpfe erwartet, ist bei „Scythe die Hüter des Todes“ falsch. Neal Shustermann nimmt sich Zeit die Welt und die Figuren zu etablieren. Für mich war das Pacing des Buches ideal, ich könnte mir jedoch vorstellen, dass manche das Buch – besonders zu Beginn - als zu langsam empfinden. Mit fortschreitendem Verlauf der Handlung präsentiert Neal Shustermann dem Leser den ein oder anderen Plottwist – dessen genaue Details ich hier selbstredend unerwähnt lasse - welche in Kombination mit der hochinteressanten Welt und der allgegenwärtigen Tiefgründigkeit, für eine substanzvolle Handlung sorgen.
Nebst all dem oben genannten, sind auch die Charaktere auf einem hohen Niveau. Citra ist ein bisweilen impulsives aber ehrgeiziges Mädchen, welches schnell lernt und einen starken Sinn für Gerechtigkeit aufweist. Rowan hingegen ist ein eher zurückhaltender und gefasster, aber auch sehr emphatischer Junge. Es war überaus interessant die Entwicklung der beiden zu verfolgen, vor allem nachdem ein bestimmtes Ereignis dafür sorgt, dass sich die Dynamik zwischen ihnen gravierend ändert. Und wo wir gerade beim Thema Charakterdynamik sind, natürlich gibt es auch in diesem Jugendbuch eine Liebesgeschichte – das einzige neben dem Tod und Steuern, dass im Leben sicher ist – jedoch ist diese, zu meiner großen Freude eher subtil und hintergründlich. Neal Shustermann fokussiert sich auf die – meiner Ansicht nach wichtigeren Aspekte einer Dystopie. Worldbuilding, moralische und ethische Fragen, Gesellschaftskritik und der gleichen mehr – statt die Liebesgeschichte zum Hauptfokus seines Werkes zu machen. Noch mehr als die Hauptcharaktere haben mich allerdings die Nebenfiguren überzeugt. Bereits in der „Vollendet“ Reihe (ebenfalls sehr empfehlenswert) bewies Neal Shustermann, dass er exzellent im Schreiben von Nebenfiguren ist. In „Scythe“ offenbart sich dies vor allem in Form von Scythe Faraday welcher Citra und Rowans Mentorscythe ist, Scythe Curie, die wir durch zahlreiche Tagebucheinträge genau kennenlernen bevor sie für die Geschichte wichtig wird und von Scythe Goddard, der als der schlimmste Albtraum dieser Welt inszeniert wird. Ein Scythe, der beim Akt des Tötens (nachlesens wie die Scythe es nennen) Freude empfindet, sich selbst als ein gottgleiches Wesen betrachtet und alle Eigenschaften vermissen lässt, welche einen guten Scythe ausmachen. Jeder dieser drei Figuren repräsentiert verschiedene Ansichten über die Scytheschaft und beeinflussen die beiden Hauptfiguren auf ihrem Weg.

„Ich würde um uns alle bangen, wenn Scythe ihre Aufgabe mit Freude erledigten“.

Auch das Ende von „Scythe die Hüter des Todes“ ist hervorragend gelungen. Wieso genau verrate ich selbstredend nicht, jedoch sei erwähnt, dass dieses Ende zwar Raum für Fortsetzungen lässt, dabei aber die Geschichte konkludiert, sodass man „Scythe auch als Einzelroman lesen kann.


Negatives:

Ich persönlich kann über „Scythe Die Hüter des Todes“ nichts negatives sagen, außer eventuell, dass einige wenige Bücher „Scythe“ in einzelnen Punkten übertreffen. Aber das wäre in etwa so, als würde man sein Kind dafür ausschimpfen, dass es in einer Klausur keine 1 Plus sondern nur eine glatte 1 geschrieben hat. Deswegen werde ich diesen Punkt nutzen um auszuführen für wen das Buch meiner Meinung nach nicht geeignet ist. Zum einem könnte der Schreibstil für manche zu distanziert und emotionslos wirken. Zum zweiten ist dieses Buch natürlich nicht für Personen geeignet welche Probleme mit den Themen Tod oder Gewalt haben, denn diese Themen sind in „Scythe“ offensichtlich omnipräsent. Zuletzt werden von dem Buch vermutlich auch all jene enttäuscht sein die Hochspannung auf jeder Seite und/oder viel Action benötigen, ebenso wie die, die eine romantische Liebesgeschichte erwarten.


Fazit:

Mit „Scythe Die Hüter des Todes“ ist Neal Shustermann ein wahres Meisterwerk geglückt, welches auf praktisch jeder Ebene vollends zu überzeugen weiß und problemlos mit den drei Klassikern konkurrieren kann – sie meiner Auffassung nach sogar übertrifft – und sich mit seinem hochinteressanten und exzellenten Konzept von anderen Jugenddystopien abhebt.