Verstörend

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strickli Avatar

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Jessica leidet am Tourettesyndrom und hält die Erfahrungen eines ganzen Jahres in Form von Tagebucheinträgen fest. Mal umfasst ein solcher Eintrag ganze Seiten, mal nur wenige Sätze - mal schildert er unmittelbar Erlebtes, mal geht es auch um längst Vergangenes. Alle Einträge sind klar und direkt geschrieben, nichts wird beschönigt. Es werden oftmals Reaktionen anderer beschrieben, es wird beschrieben, wie wiederum Jessica selbst mit diesen Reaktionen zurechtkommt oder nicht zurechtkommt. Kinder reagieren anders auf sie und ihre Erkrankung als Erwachsene dies tun, Frauen anders als Männer, soziale Außenseiter anders als "Normalos". Die Palette an möglichen und unmöglichen Reaktionen ist breit gefächert.

Zum Tourettesyndrom selbst: Ich habe mir das Buch ausgewählt, weil ich medizinisch auf laienhafter Basis an neuem Wissen interessiert bin, nur wenig über Tourette zuvor wusste und mich der relativ leichte Stil der Leseprobe sowie das fast überbordende Vorwort zum Buch und zur Autorin ansprachen. Dass es aber so schlimm sein würde, hier vertieft einzusteigen, damit hatte ich nicht gerechnet. Den Einblick zu erhalten, wie unendlich stark Tourette jede einzelne Minute des Daseins, jede einzelne Minute am Tag und in der Nacht, beeinträchtigt, hat mich stark getroffen. Jede Handlung, jede Bewegung, jeder Gang und jedes Wort, das uns Nichtbetroffenen als so selbstverständlich erscheint, artet hier zu einem kaum zu gewinnenden Kampf gegen die Tics aus. Sicherlich ist der Mut, sich diesen Situationen tagtäglich aufs Neue zu stellen, überaus bewundernswert und vielleicht auch daraus resultierend, dass es die Betroffene ja gar nicht anders kennt. Aber woher stammt die Kraft, sich dem immer und immer wieder entgegen zu stellen? Obwohl man sich selbst immer wieder durch die Tics auch körperlich verletzt? Obwohl man keine 50 Meter gehen kann, ohne dass man durch einen Tic zu Boden geworfen wird? Obwohl selbst essen und schlafen wegen der Tics zu Herausforderungen werden? Ich habe die Antwort nicht herausgefunden und muss zugeben, dass ich das Buch nach der Hälfte abbrechen musste, da ich mehr nicht aushalten konnte. Wie halten dies Betroffene aus? Vielleicht nur, indem wir alle ihnen mit Respekt und bewunderung begegnen.