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martinabade Avatar

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„Manchmal ist das Beste, worauf man hoffen kann, ein kleiner Moment des Friedens und eine kleine Gnade“.

Dieses Buch kennt keine Gnade. Es fühlt sich an als bisse man mit vielen Amalgam-Füllungen im Mund in eine Kugel aus Alufolie. Es ist wie ein schwerer Unfall auf der anderen Seite der Autobahn: Man will nicht hingucken, kann aber den Blick nicht abwenden, das Buch nicht weglegen.

Das Setting ist schnell beschrieben. Der Roman spielt im Jahre 1974 in Boston. Das ist das Jahr des Rücktritts von Richard Nixon vom Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten wegen der Watergate-Affäre, das Jahr des Rücktritts von Willy Brandt als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wegen der Affäre Guillaume und das Jahr von „the Rumble in the Jungle“ zwischen Muhammad Ali und George Foreman in Zaire.
Und es ist das Jahr von Rassenunruhen zwischen Afroamerikanern und Weißen in Boston. Ein Gericht dort hat geurteilt, dass entgegen den Bestimmungen der amerikanischen Verfassung in öffentlichen Schulen de facto noch Rassentrennung herrscht. Also sollen zum neuen Schuljahr Busse weiße Kinder zu schwarzen Schulen und schwarze Kinder in weiße Schulen bringen. Das Fachwort für diese Maßnahme lautet: „Desegregation busing“.
Die Stadt ist in Aufruhr. Überall sammelt sich Protest. Schilder werden gemalt, Demos organisiert. Die Gewalt, die kommen wird, ist schon mit Händen zu greifen. Der Autor, der zu diesem Zeitpunkt als neunjähriger Junge in seiner Familie mit irischen Wurzeln in Boston lebte, erinnert sich lebhaft. Er habe deswegen auch nicht all zu viel für diesen Plot recherchieren müssen, seine eigenen Erinnerungen waren stets präsent.
Im Mittelpunkt des Plots steht vom Anfang bis zum Ende Mary Pat Fennessy. Mary Pat wohnt mit ihrer Tochter „Jules“, eigentlich Julia im Stadtteil Projects. Einem weißen Stadtteil! In Projects hat jeder einen Spitznamen und niemand Geld. Auch Mary Pat nicht, obwohl sie zwei Jobs macht. Das Viertel wird von Gangs, Gangstern und Gewalt beherrscht. Überall ist Hass und Diskriminierung. Die Polizei tut entweder nichts oder steht auf der Payroll der Mörder, Dealer, Waffenhändler. Mary Pat’s erster Mann ist verschwunden, der zweite hat sie gerade verlassen, ihr Sohn war in Vietnam und ist später zuhause an Drogen krepiert. Jules ist ihre ganze Familie, und eines nachts kommt die 17jährige nicht mehr nach Hause.
„Und sie weiß, dass ihre Tochter tot ist.
Sie weiß, ihre Tochter ist tot.“

Mary Pat nimmt die Dinge selbst in die Hand. Sie zieht in den Krieg gegen die Mörder ihrer Tochter. Sie hat niemanden mehr zu verlieren. Sie vergilt Gewalt mit Gewalt. Brutal und planvoll. Manchmal spricht sie mit dem Polizisten Bobby Coynes. Dann blitzt sie auf, diese Sekunde der Gnade, aber eben nur eine Sekunde, keinen Deut länger. Am Ende sehen wir eine Tragödie Shakespear’schen Ausmaßes. Wer nicht im Knast sitzt, ist tot.

Einer der Gangster kommentiert es so: „Jemanden umbringen ist wie Schneeschaufeln – ich mach’s nicht gern, aber es muss getan werden.“