Halten und loslassen

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Diese Familie ist keinesfalls wie aus dem Bilderbuch: Der kleine Shuggie wird im Glasgow der 1980er Jahre groß mit einem Vater, der zunächst durch toxische Männlichkeit in seiner Präsenz und schließlich durch konsequente Abwesenheit „glänzt“, und mit einer Mutter, die alles Unerfüllte in ihrem Leben im Alkohol sucht. Shuggies Halbgeschwister Catherine und Leek entziehen sich den zerstörerischen Strukturen schon früh mehr oder minder, so dass Shuggie schließlich mit Mutter Agnes alleine zurückbleibt. Nicht nur gilt es für ihn nun, die Schmach ob der ständigen Trunkenheit seiner Mutter auszuhalten, ist Shuggie doch schließlich außerdem auch „nicht ganz normal“: sein Gang ist zu feminin, seine Ausdrucksweise zu gewählt und sein Körper zu schwach. Ein gefundenes Fressen für die Jugend des sozialen Rands! Doch Shuggie beißt sich durch, stets fokussiert auf Agnes und ihr Wohlbefinden in der Sucht. Es bleibt die Frage: Wie weit reicht sein Einfluss?

„'Ich weiß nicht. Ich hab das Gefühl, genau das wollen Alkis eigentlich.' Sie zitterte. 'Sterben, mein ich. Sie nehmen einfach nur den Umweg'“. (S. 447)

Unglaublich, aber wahr! „Shuggie Bain“ ist ein Debüt. Der selbst in Glasgow geborene Douglas Stuart verarbeitet mit seinem Erstling die Suchtgeschichte seiner Mutter. Und wie er das sprachlich wie auch erzählerisch macht, ist eine Offenbarung! Mit feinstem Gespür für sein Figurentableau erschafft Stuart eine überaus eindrückliche Milieustudie wie Familiengeschichte gleichermaßen. Da ist kein Wort zu viel, kein Charakter überflüssig, keine Wendung unstimmig, wenn Shuggie nach und nach vom Rand der Geschichte in den Mittelpunkt rückt.

Im Fokus steht zunächst vor allem Agnes, die in all ihrer Tragik doch niemals lediglich Mitleid provoziert oder Abscheu hervorruft. Unter all der Verwahrlosung, die sie auch ihren Kindern angedeihen lässt, spüren die Leser*innen in jedem Wort die unbändige Liebe, die einer hoffnungslosen Hilflosigkeit nach und nach weichen musste. Besonders im Beziehungs-Dreigestirn Agnes-Shuggie-Leek werden die unterschiedlichen Positionen deutlich, das permanente Hin-und-Her-Gerissen-Sein, dem alle Beteiligten sich ständig aussetzen und an dessen jeweiligem Ende immer wieder der Alkohol als großer Gewinner auftaucht. Shuggie entwickelt sich dennoch zu einem Jungen und jungen Mann, den die Erfahrungen der Kindheit gestärkt haben, der sich nach und nach von den Vorstellungen der Gesellschaft, besonders der anderen Kinder, emanzipiert. In seiner Unbekümmertheit, die vor dem Hintergrund des Erlebten nahezu unfassbar und dennoch höchst authentisch wirkt, wird er zum Vorzeigebild, zum kleinen Helden. Eine Neuerfindung des Coming-of-Age-Begriffes: herzzerreißend traurig, zutiefst ver- und zerstörend und doch mit so viel Herzenswärme!
Unbedingte Erwähnung in dieser in jeglicher Form gerechtfertigten Lobeshymne sollte noch die Sprache finden: In kongenialer Manier hat Sophie Zeitz es geschafft, den Slang der Glasgower Unterschicht ins Deutsche zu übertragen. Ein fast schon aussichtsloses Unterfangen, das ihr meines Erachtens jeden erdenklichen Übersetzer*innen-Preis einbringen sollte!