Nie mehr möchte ich dieses Buch missen!

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fraedherike Avatar

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„Es spielt keine Rolle, ob du wegrennst oder dich wegschleichst, er ist immer genau hinter dir, wie ein Schatten. Der Trick ist, nicht zu vergessen.“ (S. 292)

Glasgow, 80er Jahre: Das Land ist gezeichnet von der gnadenlosen Wirtschaftspolitik Thatchers, die Menschen leiden unter der Arbeitslosigkeit, die Armut und Hoffnungslosigkeit lässt viele in die Alkoholabhängigkeit abstürzen. Dieses Elend erleben Shuggie und seine Geschwister tagtäglich. Der Siebenjährige ist das Antidot zu all der Tristesse, in der die Arbeiterfamilie versinkt: Shuggie ist fröhlich und gewitzt, voller Fantasie; er ist anders als die Kinder in seinem Viertel, sein Gang ist feminin, wie der eines Tänzers und das verschafft ihm keinen leichten Stand. Die Folgen: Er wird gemobbt und drangsaliert, ausgeschlossen; er ist alleine, denn auch Zuhause erwartet ihn kein wohlig behütetes Umfeld. Zwar liebt seine Mutter Agnes ihn bedingungslos, versteht ihn und beschützt ihn, aber sie verliert sich immer mehr in ihrer Alkoholsucht. Energisch versteckt sie sich hinter eine Fassade aus Make-up, feiner Kleidung und strahlenden Kunstzähnen, doch auch das kann Shuggie nicht darüber hinwegtäuschen, so es um seine Mutter steht. Voller Hingabe und Angst setzt er alles daran, sie zu retten, Jahr um Jahr, bis jede Hoffnung sinnlos erscheint...

Eigentlich bin ich nicht um Worte verlegen, aber Douglas Stuarts Debütroman „Shuggie Bain“, in der grandiosen Übersetzung von Sophie Zeitz, hat mich sprachlos gemacht. Ich habe keine Worte dafür, wie sehr mich diese Geschichte, diese sensible, behutsame und überwältigend eindringliche Art zu schreiben berührt hat. Stuart gibt den Menschen, die vergessen werden, die von der Gesellschaft als Verlierer bezeichnet werden, eine Stimme, und zeigt auf, was für Mühe es die Menschen kosten kann, gesellschaftlich aufzusteigen, Essen und Bildung zu erhalten – Dinge, die für unsere westliche Welt heute selbstverständlich sind. Und das alles kommt nicht von ungefähr: Mehr als zehn Jahre schrieb Stuart an seinem Debütroman, verarbeitete mit dem Schreiben nicht nur autobiografische Elemente, sondern versuchte auch herauszufinden, ab wann Alkohol zum Problem wird, wann ein Leben daran zerbricht – und eine ganze Familie mitreißt – und wie es ist, in einer patriarchal und viril geprägten Gesellschaft aufzuwachsen, wenn man homosexuell ist.

Doch er zeigt nicht nur die dunklen Seiten auf, die das Leben bereithält, denn in „Shuggie Bain“ steckt so viel mehr, so viel Gutes: Es ist eine große Liebe, die Shuggie und seine Mutter verbindet, eine Liebe, die alles überstrahlt und die in diesem jungen Alter nicht selbstverständlich ist. Es brach mir jedes Mal das Herz, wenn Agnes wieder einmal rückfällig geworden ist, alle Hoffnung in Scherben am Boden lag – und Shuggies Herz gleich mit. Trotz allem kämpfen die Geschwister darum, es später einmal besser zu haben, stecken aber immer wieder zurück – bis es zum Äußersten kommt.

Der Roman hat mich fliegen und unsanft zu Boden fallen lassen, dass es wehtat und Narben zurückließ, doch sie erinnern mich nur daran, was für unglaubliche Gefühle ich erlebt habe, wie oft ich zwischen Lachen und Weinen schwankte, zwischen Liebe und Verdruss – und immer wieder muss ich daran denken, wie Agnes und Shuggie gemeinsam tanzen, dieser Moment voller Sorgenlosigkeit und Glückseligkeit. Und schon stehen mir wieder die Tränen in den Augen.

Thank you for this masterpiece, @douglas_stuart, it was an honor meeting you in Berlin and getting to know Shuggie. Herzlichen Dank an @hanserberlin für das Rezensionsexemplar.