Dschinn der Steppe

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amara5 Avatar

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Die deutsch-polnische Schriftstellerin Autorin Sabrina Janesch verwebt in ihrem packendem Roman „Sibir“ zwei Geschichten des Erwachsenwerdens in sehr unterschiedlichen Zeiten sowie Ländern und beleuchtet dabei bewegend die Geschichte der „Russlanddeutschen“.

Als Leila bemerkt, dass ihrem Vater die Erinnerungen an Früher durch seine Demenzerkrankung langsam verlorengehen und er stattdessen verwirrte Stimmen aus der Vergangenheit wahrnimmt, beschließt sie, seine außergewöhnliche Geschichte des Zwangsaussiedelns und Wiederankommens in Deutschland niederzuschreiben. Josef Ambacher ist ein sogenannter Russlanddeutscher: Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er als 10-jähriger von der Roten Armee mit seiner Familie und vielen weiteren Zivilgefangenen aus Galizien nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Schon alleine die weite Anfahrt im Zugwaggon haben viele nicht überlebt – auch sein kleiner Bruder Jakob. Doch was die Menschen verschiedenster Kulturen gemeinsam in dieser Siedlung Nowa Karlowka in der irrsinnig weiten, rauen Steppe erleben, um zu überleben, ist erzählerisch atemberaubend und menschlich dramatisch.

Sabrina Janesch verknüpft das Heranwachsen von Josef in Kasachstan mit den Erlebnissen von seiner Tochter Leila im jeweils gleichen Alter, stellt die Steppe in Bezug auf eine Randsiedlung in Mühlheide, Niedersachsen. Als Josef mit Ende des Eisernen Vorhangs in Deutschland die vielen ankommenden Spätaussiedler in seiner Heimat sieht, wird er frontal mit seiner eigenen Vergangenheit und Ängsten konfrontiert. Denn er hat gelernt, über sein Leben in Kasachstan zu schweigen – nur Tochter Leila kann von seinen bewegenden, abenteuerreichen und teils tragischen Geschichten, den Dschinn der Steppe, nicht genug bekommen.

Aus abwechselnden Perspektiven entwirft Janesch in einer beeindruckenden, poetischen und bildhaften Sprache ein tiefgreifendes Bild über Heimat, Identität, Vertreibung, familiären Verstrickungen, unterschiedlichen Kulturen, Freundschaft und Mut. Besonders die eindringlichen Schilderungen aus Kasachstan sind sehr dicht, plastisch und soghaft – faszinierend komponiert Janesch das harte Leben in der kasachischen Steppe mit wilden Tieren, Mythen, kulturellen Traditionen und Wetterphänomenen. Leilas Kindheit in den 1990er-Jahren ist geprägt von ihrer Freundschaft zu Arnold, mit dem sie viel Zeit draußen verbringt und alles teilen kann und doch empfindet sie ihr Heranwachsen als hart und ausgegrenzt. Mit assoziativen Schlaglichtern zieht Janesch Anknüpfungspunkte aus Kasachstan zu Leilas Leben in Norddeutschland, was nicht immer ganz rund erscheint, da beide Lebensumstände nicht wirklich zu vergleichen sind.

„Sibir“ glänzt vor allem durch eine sprachliche Wucht und Versiertheit – Bilder der unendlichen Steppe tauchen beim Lesen auf und gleichzeitig lenkt Janesch präzise recherchiert den Blick auf ein Stück wichtige deutsch-russische Geschichte und autofiktional auf ihre eigene Familiengeschichte. Über Jahrzehnte hinweg rollt sie feinfühlig auf, wie verdrängte Kriegstraumata auf die nächste Generation weitergegeben werden und welchen Überlebenswillen Menschen auch in der härtesten Umgebung und Ausgrenzung entwickeln. Ein tiefsinniger, kraftvoller und sehr sinnlicher Roman mit einem berührenden Ende und der dazu einlädt, sich noch tiefer mit der Zeitgeschichte und Entwurzelungstraumata zu beschäftigen.