Über das Kasachischsein

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martinabade Avatar

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Neuankömmling – Containerdorf – Krähenclan – Östlichkeit – Fremdsein – Kasachstan – Zivilgefangene - Buran – Colt-Revolver – Steppe – Kasachischkeit - Zahngold

Was soll man schreiben über ein Buch, das das „Buch des Monats“ im NDR ist, und über dem die guten Kritiken hageln. Und diese Kritikerinnen und Kritiker haben aus ihrer eigenen Sicht recht.

Retten wir uns erst mal in die Fakten. „Sibir“ heißt Sibirien auf russisch und ebenso das tatarische Khanat Sibir, nach dem die russische Region Sibirien benannt ist. Es ist außerdem der ehemalige Name der Hauptstadt des Khanats Sibir, heute Qaschliq.

Die Autorin ist ein preisgekrönter Profi. Sie ist in der tiefsten niedersächsischen Provinz geboren und aufgewachsen und hat heute ihren Lebensmittelpunkt nur ein paar hundert Kilometer entfernt. Zwischendurch war sie Stipendiatin des Ledig House in New York und Stadtschreiberin von Danzig.

Janesch erzählt diesen Roman auf zwei Zeitebenen:1945 und 1990. Sie wählt dazu zwei Schwerpunkte. Die sich wiederholende Geschichte von Flucht, Vertreibung und der Suche nach Heimat und die Rolle von Familie in solchen Situationen, präziser formuliert, sie erzählt eine Familien-Vater-Tochter Geschichte.

1945 lernen wir Josef Ambacher kennen: der zehnjährige Junge wird mit seiner Familie und vielen anderen Menschen aus Galizien, seiner Heimat, von den Sowjets nach Kasachstan verschleppt. Nach tagelanger Reise unter menschenunwürdigen Umständen wird seine kleine Gruppe an einer Haltestelle im Nirgendwo aus dem Zug in den Schneesturm geworfen, versehen mit einer groben Richtungsangabe, wohin zu laufen sei. Nach einem Marsch durch Schnee, Sturm und Kälte kommt die Gruppe in einem Dorf an, in dem die Menschen selbst in bitterster Armut leben. Josefs Mutter Emma, geschwächt von Hunger und Entbehrungen während der Fahrt läuft ihren Halluzinationen in den Schnee hinterher und verschwindet für immer.
Die Familien fügen sich ängstlich in die Regeln der Dorfgemeinschaft ein, Überleben ist das einzige Ziel. Josef findet bald einen Freund, mit Tachawi zusammen geht er immer wieder auf die Suche nach seiner Mutter. Erlebt die Steppe. Und die Geister der Steppe.

Bei dem Angriff eines Rudels Schneewölfe auf das Dorf, zögert ein Bewohner, dem Deutschen eine Waffe in die Hand zu geben, um ebenfalls gegen die Tiere zu kämpfen. Ein Deutscher auf russischem Boden mit einer Waffe in der Hand?

Nach ungefähr zehn Jahren werden diese Menschen in die Bundesrepublik Deutschland geholt. Sie sind Zivilgefangene. Ein Wort, das die wenigsten von uns kennen werden. Nach der „Heimkehr der Zehntausend“, des diplomatischen Erfolgs Konrad Adenauers Mitte der 50er Jahre zur Rückführung Tausender russischer Kriegsgefangener, kommen auch diese deutschsprachigen Verschleppungsopfer aus Russland nach Deutschland. Die meisten kommen in das Auffanglager „Friedland“, werden von dort aus weiter verteilt. Josefs Vater kennt eine Familie, die jemanden kennt, der jemanden kennt, der in Niedersachsen wohnt. Da gehen sie erst mal hin. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Duplizität der Ereignisse: 1990 ist Josef Ambacher selbst Vater. Die Familie lebt in einem Stadtteil, in dem es sich die Community notgedrungen „gemütlich“ gemacht hat. Die Menschen haben viele Dinge aus der Steppe und der Zeit der Vertreibung mit nach Deutschland gebracht. Jeder trägt sein Päckchen. Das eine sind die Geschichten, die Josef oft und gern seiner Tochter Leila erzählt. Das andere sind die bösen Erinnerungen, die Alpträume und Angstzustände, die die Menschen nicht verlassen. Der Vater ist Leilas Held und Vertrauter. Der Vater ist auch der Dreh- und Angelpunkt in der Gemeinschaft, die sich plötzlich einer neuen „Bedrohung“ ausgesetzt sieht.

Mit dem Ende des Eisernen Vorhangs und der Sowjetunion kommen zahlreiche Russlanddeutsche, Menschen jüdischen Glaubens und andere Kontingentflüchtlinge in das frisch geborene Gesamtdeutschland. Und so, wie Josef und seine Familie 1945 in der Steppe standen, steht nun eine Gruppe „frisch Geflüchteter“ in der Siedlung.

All dies erfahren wir durch die Brille Leilas, die zusammen mit ihrem besten Freund Arnold und bald auch mit Pascha, eigentlich Pawel, versucht, mit ihren eigentlichen kindlichen Problemen fertig zu werden und gleichzeitig die Dinge zu verstehen, die die Erwachsenen umtreibt. So hüten auch Arnold und sie an verschiedenen Stellen „Schätze“, um im Ernstfall fliehen oder sich wehren zu können. Und trotzdem prallen Erinnerung und Gegenwart immer wieder schmerzhaft aufeinander.

Janeschs große Kunst ist die Beschreibung von Erinnerung und Atmosphäre. Ohne großes TamTam. Einzelne Worte, halbe Sätze. Und schon kann die Phantasie der Leserin oder des Lesers losfliegen.

In einem Interview findet sich die Erklärung. Der Roman besteht teilweise aus autobiographischen Versatzstücken. Die Autorin dazu:
„“Sibir” ist mein fünfter Roman, und das ist kein Zufall. Ich wusste schon sehr lange – eigentlich seit meinem Debütroman –, dass ich mich mit diesem Thema beschäftigen wollte. Gleichzeitig ahnte ich, dass ich für das Schreiben, für diese jahrelange Beschäftigung, einen kühlen Kopf und ein ruhiges Herz brauchen würde.“ Quelle: amazon.de

Wie gut, dass Sabine Janesch sich ein Herz gefasst hat.