Dunkle Jahre

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marapaya Avatar

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Als Kind lebt man in der selbstverständlichen Vorstellung, dass das Leben der anderen auch erst richtig mit der eigenen Geburt begann und vorher alle nur darauf gewartet haben. Mir vorzustellen, dass meine Mutter vor meiner Geburt auch ein Kind war und meine Großeltern ihre Eltern kam mir lange nicht in den Sinn. Irgendwann verliert sich diese Annahme und plötzlich fragt man nach, will wissen, wie die Eltern und Großeltern als junge Menschen waren und versucht Ähnlichkeiten zwischen den Fotos von damals und den erwachsenen, gealterten Menschen von heute zu entdecken. Auf Kinderbildern picke ich allerdings meine Mutter oder meinen Vater nur mit viel Glück aus der Menge anderer Kinder heraus und wundere mich insgeheim bis heute, dass sie auch mal jung und hilflos waren. Emma Brockes muss ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die Vergangenheit ihrer Mutter stand als seltsame Leerstelle im Raum und Zeit ihres Lebens verschonte sie die Tochter mit den traumatischen Einzelheiten ihrer Familiengeschichte. Verschonen ist das einzig richtige Wort in diesem Zusammenhang, denn Emmas Großvater muss ein furchtbarer Mann und Vater gewesen sein, ein Kinderschänder.
Emma Brockes Erzählen ist äußerst dicht und gehaltvoll, dabei schwingt stetig ein ganz leichter Ton von feiner Ironie gepaart mit schwarzen Humor durch die Zeilen. Die Autorin entwirft auf diesen ersten Seiten der Leseprobe ein respektvolles, liebendes und klug gezeichnetes Bild ihrer Mutter, welches auch die merkwürdigen, dunklen Züge nicht verhehlt und ein Geheimnis erahnen lässt, mit dem die Autorin versucht besonders sachlich umzugehen.