Das große malvenfarbene Schweigen

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buecherfan.wit Avatar

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In ihrem Buch “Sie ging nie zurück” schreibt die mehrfach ausgezeichnete Journalistin Emma Brockes, die in New York lebt und arbeitet, die Biografie ihrer Mutter und die Geschichte ihres eigenen Lebens auf der Suche nach der Wahrheit.

Immer wieder hatte ihre Mutter Paula der Tochter angekündigt, ihr eines Tages über die Zeit vor ihrer Emigration von Südafrika nach England zu erzählen - die Mutter verließ ihre Heimat im Jahr 1960 mit 28 Jahren-, bis es irgendwann zu spät war. Schon als Kind hatte Emma jedoch immer gespürt, dass es furchtbare Dinge gab, die die Mutter ihr verheimlichte, die trennend zwischen ihnen standen (“…, das große malvenfarbene Schweigen am Rand meiner bekannten Welt.” S. 35). Kurz vor ihrem Tod sagt Paula der Tochter, dass ihr Vater, Emmas verstorbener Großvater Jimmy, ein gewalttätiger Alkoholiker und Kinderschänder war.

Emmas Großmutter Sarah heiratete einst einen verurteilten Mörder, ohne es zu wissen. Sie starb an Tuberkulose, als ihre Tochter zwei Jahre alt war. Einige Zeit später heiratete Jimmy erneut und bekam mit seiner zweiten Frau Marjorie mindestens acht, möglicherweise zehn Kinder. Die deutlich ältere Pauline, wie sie damals noch hieß, liebte ihre Geschwister und war für die Jüngsten wie eine Mutter. Später werden einige von ihnen Emma sagen, dass sie nur durch Paulines Liebe die unerträglichen, von immerwährender Armut und Gewalt bestimmten Lebensumstände überlebten.

Nach dem frühen Tod der Mutter im Jahr 2003 will Emma ihre Verwandten kennenlernen und herausfinden, was damals wirklich passiert ist. Sie verbringt zweimal längere Zeit in Südafrika, liest Gerichtsprotokolle und Zeitungsartikel und spricht mit den Halbgeschwistern der Mutter, die ihr mehr oder weniger bereitwillig die Puzzleteilchen liefern, die die Grundlage von Emmas Buch werden. Sie erfährt entsetzliche Dinge über Jimmys zerstörerische Taten, die seine überlebenden Kinder zu beschädigten Menschen machten. Emma begreift, welche übermenschliche Anstrengung es die Mutter gekostet haben muss, mit dem alten Leben radikal abzuschließen und ein völlig anderes in England anzufangen, wo sie im Beruf und mit Mann und Kind glücklich wird, ohne dass irgendjemand außer ihrem Ehemann ahnt, was sie verbirgt.

Emma Brockes nimmt sich für ihre Recherchen und das Abfassen ihres Buches fast 10 Jahre Zeit. Herausgekommen ist eine sehr berührende, teilweise auch recht humorvolle, nie in Larmoyanz oder Selbstmitleid abgleitende Biografie ihrer Mutter und der Halbgeschwister mit autobiografischen Elementen aus ihrem eigenen Leben. Es ist für den Leser gut nachvollziehbar, wie sie sich dem Gegenstand vorsichtig nähert, immer bemüht, sich selbst nicht zu überfordern und das Andenken der Mutter nicht zu beschädigen, sie nicht Gegenstand einer Fallstudie werden zu lassen. Das Ergebnis ist ein sehr lesenswertes Porträt einer dysfunktionalen Familie zur Zeit des Apartheidregimes, bei dem nur die Titel seltsam unpassend erscheinen. Weder der deutsche noch der englische Titel trifft den Sachverhalt. Paula kehrte als Besucherin zweimal nach Südafrika zurück und traf ihre Verwandten. “She left me the gun” entspricht ebenfalls nicht den Tatsachen, denn die nach England geschmuggelte Pistole, mit der Paula einst versucht hatte, ihren Vater zu erschießen, sollte zwar als kostbarster Besitz Emma vermacht werden, wurde aber viele Jahre vor Paulas Tod im Rahmen einer Amnestie für illegalen Waffenbesitz von dieser den Behörden übergeben. Doch diese kleinen Mängel sind angesichts einer von Liebe durchdrungenen Hommage an eine außergewöhnliche Mutter zu vernachlässigen. Ein sehr empfehlenswertes Buch.