Gedrängte Lage

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stricki Avatar

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"Gedrängte Lage" ist das Gericht, dass die Ich-Erzählerin am Ende der Woche bei ihrer exzentrischen Großmutter Hilde zu essen bekam, wenn ihre Eltern sich auf Geschäftsreise befanden. Reste-Essen der Kriegsgeneration, nichts wird weggeschmissen, alle Reste der Woche in einem Auflauf.

Gedrängte Lage passt aber auch perfekt zum Seelenzustand der Ich-Erzählerin, die eines Morgens wach wird, und nicht mehr weiter machen kann. Sie kapituliert. Sie fährt in die Psychiatrie um sich selbst einzuweisen.

Und während sie wartet, rauschen Erinnerungen durch ihren Kopf.

Sie durchlebt Szenen aus ihrer Kindheit, der dominante, erfolgreiche Stiefvater Siegfried und ihre schöne, schwache, unglückliche Mutter. Die Eltern hatten Probleme, und schoben das Kind oft zur Großmutter ab. Das perfekte Elternhaus gab es nur in der Außendarstellung, Zuhause gab es viel Alkohol, Regeln und Kälte. All das bekam das Mädchen auch bei Großmutter Hilde, plus Zuckerbrot und Peitsche, Drill und Zärtlichkeit, und ein unglaublich ambivalentes Frauenbild. Immerhin wurde sie dort wahr genommen, stand im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Die Ich-Erzählerin befand sich durchgehend im Alarmzustand, es allen Recht zu machen.

Diese Alarmzustand hält lange an, und setzt erneut ein, als sie ihre große Liebe Alex kennenlernt.

Ein mittelloser Künstler mit einer geheimnisvollen Aura, schweigsam, körperlich anwesend, innerlich oft weit weg. Ihn kann sie lieben, wenn auch mit großer Vorsicht und der fortwährenden Angst, ihn zu verlieren. Auch er mit einem schwierigen Verhältnis zu seinen Eltern.
Die Beziehung verändert sich, als die beiden eine Tochter bekommen. Plötzlich werden andere Werte wichtiger.
Geld spielt eine Rolle, die Tochter aus reichem Haus kritisiert den chaotischen Künstler, der nicht genug zum gemeinsamen Alltag beitragen kann. In Stresssituationen rutschen beide in Rollen, die sie aus ihrer Kindheit kennen und hassen, aber sie sind der Situation hilflos ausgeliefert. Mit jedem Streit und jeder Eskalation nimmt die Verzweiflung der Protagonistin zu.

Antonia Baum schreibt unglaublich intensiv. Sehr beschreibend, ohne zu urteilen. Als Leserin befindet man sich mitten drin, und will alle nur schütteln, oder warnen, oder helfen.

"Meine Mutter beugte den Kopf über ihren Teller, als würde sie über einem Brunnen stehen, in den ihr etwas reingefallen war."(S.202)

Das Buch erinnert mich von der Stimmung an "Lügen über meine Mutter", wo ebenfalls eine Tochter unter den Streitigkeiten der Eltern leidet, zu einer Zeit, wo Kinder "noch so nebenbei liefen" und sich niemand Gedanken machte, welche Auswirkungen das auf die Psyche der Kinder haben wird.

Ich habe das Buch verschlungen und mache mir nun Gedanken, wie es mit der Ich-Erzählerin weitergehen könnte. Diese intensive Geschichte hallt nach.

Meine Leseempfehlung!