Regt zum Nachdenken an

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"Siegfried" von Antonia Baum handelt von einer Frau, die in ihrem Leben viel Lieblosigkeit und psychische Gewalt erfahren hat. Eines Tages wird ihr alles zu viel, sie schafft es nicht mehr, die Fassade, die sie viele Jahre mühsam gepflegt hat, aufrechtzuerhalten und fährt in die Psychiatrie, um einfach mal alle Verantwortung abgeben und ihre Ruhe haben zu können.
Dieser Tag, den sie in der Psychiatrie wartend verbringt, ist auch der einzige Tag, der in der Gegenwart spielt. Hier reflektiert sie in vielen und oft detaillierten Rückblicken ihr Leben und Momente, die sie besonders geprägt haben. Schlüsselfigur ihres Lebens ist ihr Stiefvater Siegfried, der der Maßstab für alles ist und durch dessen Augen sie die Welt und die Menschen wahrnimmt. Er ist das Sinnbild des Patriarchats, um ihn drehen sich alle anderen weiblichen Hauptfiguren der Geschichte und versuchen es ihm stets alles rechtzumachen.
Die Rückblicke sind nicht chronologisch und auch innerhalb einer Rückblende wird oft ein Gedankengang von einem anderen unterbrochen, wodurch es manchmal dauert, bis man dahin kommt, worauf der Gedankengang eigentlich abzielt. Diese Struktur lässt das Ganze sehr authentisch wirken und man hat das Gefühl, direkt in den Kopf der Hauptfigur blicken zu können.
Die Hauptfigur beschreibt ihre Welt, die sie mit genauer Beobachtungsgabe und Scharfsinn recht ungeschönt reflektiert, aber trotz dessen nicht so richtig aus den Strukturen, die sie in der Kindheit erlernt hat, ausbrechen kann. Nach und nach setzt sich so ein Bild zusammen und man kann nachvollziehen, wie der Zusammenbruch der Hauptfigur, die es verinnerlicht hat, dass der äußere Schein gewahrt werden muss, während tatsächliche Probleme unter den Tisch gekehrt werden, zustande kommt.
Der Stil der Autorin ist unglaublich präzise, sehr stimmig und beschreibt nüchtern und scharfsinnig, nach welchen Mechanismen die verschiedenen Charaktere agieren.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen, es regt zum Nachdenken an und viele Sätze muss man erst mal auf sich wirken lassen, weil sie so viel Aussagekraft besitzen.
Natürlich wäre es noch schön gewesen zu erfahren, wie es der Hauptfigur über diesen Tag hinaus ergangen ist, nichtsdestotrotz wurde ein wunderschönes und zugleich beängstigendes Porträt davon gezeichnet, wie die traumatisierenden Erfahrungen der Kindheit einen Menschen zeichnen und handeln lassen.