Das Leben danach

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roomwithabook Avatar

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Die ersten beiden Sätze dieses Buches haben mich sofort gepackt: „Einen Tag vor ihrem Tod rief Simone mich noch einmal an. Das weiß ich genau, denn ich hatte keine Zeit.“ Schon am darauffolgenden Tag springt Simone aus dem zehnten Stock des Hauses, in dem sie lange gewohnt hat, sie ist 27 Jahre alt. Und lässt ihre Familie und Freund:innen verzweifelt und ratlos zurück, denn so richtig erklären kann sich ihren Suizid keine:r. Anja Reich, die Simone seit Jugendtagen kannte, seit sie ein paar Jahre mit deren Bruder zusammen war, hat erst Jahrzehnte später das Gefühl, sich mit dem Tod der Freundin auseinandersetzen zu können. Sie trifft sich mit Simones Bruder, besucht deren Eltern und spricht mit alten Freund:innen und Bekannten. So langsam entsteht das Bild einer Frau, die ewig rastlos war, psychisch nicht gefestigt und trotzdem offen für das Leben und neue Erfahrungen. Anja und Simone wuchsen beide in Ostberlin auf, Simone zumindest in privilegierten Verhältnissen, beide Eltern sind Ärzte, arbeiten allerdings sehr viel. Simone geht viel aus, interessiert sich für Lateinamerika und die sozialistischen Bruderstaaten, und eigentlich fällt die Mauer genau zur richtigen Zeit für sie. Gerade am Beginn des Studiums kann sie plötzlich reisen, zum Beispiel für ein paar Monate nach Kolumbien, die Welt steht ihr offen. Und doch ist sie nie glücklich, oft überfordert und einsam. Mit dem Zusammenbruch der DDR wird auch ihr eigenes Leben brüchig, sie findet keinen dauerhaften Halt mehr. Anja Reich liest Simones Briefe und Tagebücher, spricht mit verschiedenen Expert:innen und Psycholog:innen, doch trotz aller Versuche gibt es keine Erklärung. Und das ist vielleicht das, was am Ende bleibt: Fragmente einer Freundschaft, Momentaufnahmen eines anderen Menschen, den man nie wirklich kennen kann. Reich setzt das Leben ihrer Freundin in Bezug zu ihrem eigenen, gibt persönliche Einblicke in die Zeit damals, ohne je das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Das Ende der DDR bedeutete eben auch eine Erschütterung des eigenen Lebens, das viele danach nicht mehr problemlos weiterführen konnten. Die Autorin nimmt Bezug auf persönliche und kollektive Erfahrungen sowie vererbte Traumata und versucht so, das Leben und Sterben ihrer Freundin zu verstehen, wohl wissend, dass das gänzlich nicht möglich ist. So entsteht ein sehr persönliches Buch, das ich mit großer Begeisterung gelesen habe.