Spurensuche...

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Es ist das Jahr 1996. Wenige Stunden nachdem Anja Reich mit ihrer Freundin Simone telefoniert hat, bringt sich Simone um. Simone ist nicht älter als 27 Jahre alt geworden. Jahrzehnte später begibt sich Anja Reich auf Simones Spuren, taucht tief in das Leben ihrer Freundin ein, versucht zu verstehen, warum sich Simone umgebracht hat, sucht nach Erklärungen, setzt sich auf diesem Weg auch mit ihrer eigenen Beziehung zu Simone auseinander, geht der Frage nach ob sie hätte helfen könne, ob sie hätte verhindern können, ob auch sie Schuld trifft. Anja Reichs Reise in Simones Leben beginnt mit dem Leben von Simones Eltern. Aufgewachsen im 2. Weltkrieg, Nachkriegskinder, der Vater in einem Ort in Mecklenburg Vorpommern, die Mutter in der Slowakei. Um zu verstehen, was in der Gegenwart geschieht, sollte man in die Vergangenheit gehen, alles hängt mit allem zusammen. Schritt für Schritt die Familiengeschichte verfolgen, wie sind die Eltern, die Großeltern aufgewachsen, welche Normen und Werte wurden ihnen vermittelt, in welcher Gesellschaftsform haben sie gelebt. Sehr interessant diesen Spuren in „Simone“ zu folgen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Anja Reich aufzeigt, darstellt, aber nicht wertet. Es wird viel Platz und Raum gelassen, für eigene Ansichten und vielleicht auch Interpretationen. Ich wage zu behaupten, dass es interessant sein könnte, zu erfahren, wie andere Leser und Leserinnen dieses Buch gelesen haben, auf welche eigenen Gedanken sie gekommen sind.
Simone wächst in der DDR auf, zuerst in einem kleinen Ort in Mecklenburg Vorpommern, dann in Berlin. Ihre Eltern arbeiten beide als Ärzte, ihre Mutter als Zahnärztin, ihr Vater als Gynäkologe. Beide behandeln und untersuchen Simone. Der Leistungsdruck in dieser Familie ist hoch. Vielleicht würde man Eltern wie Simones heute als Helicopter-Eltern bezeichnen. Sie entscheiden für ihre Kinder, glauben zu wissen was für ihre Kinder das Beste sei, wollen Gefahren und Herausforderungen von ihren Kindern abhalten, wollen die bestmöglichen Startbedingungen für ihre Kinder. Das mag sich auf manche Kinder positiv wegweisend auswirken, auf andere beengend, einschüchternd, zu viel Druck mit dem nicht umgegangen werden kann. Bestens gemeint, mit katastrophalen Auswirkungen. Nicht immer tun Eltern ihren Kindern gut und nicht selten erkennen die Kinder das erst Jahrzehnte später. Wenn es vielleicht schon zu spät ist. Natürlich stellte sich mir beim Lesen immer wieder die Frage, wie sehr die Eltern Schuld an Simones Verhalten und ihrem Selbstmord trifft. Es gibt Szenen in diesem Buch, die haben mich tief erschüttert. Simones Schicksal hat mich tief erschüttert. Ihre ständige Suche, ihre Selbstzweifel, ihre Traurigkeit, ihre Ausgelassenheit, ihr Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Zuneigung und gleichzeitig die Unfähigkeit all das leben zu können. Trennungsangst, Verlustängste. Simone ist wenige Monate alt, als ihre Eltern sie in eine sogenannte Wochenkrippe geben. Man stelle sich vor, man gibt sein Baby in die Obhut fremder Menschen, nicht nur täglich für ein paar Stunden, sondern für Tage, für Wochen, lässt es fremd betreuen, darf es nicht sehen. DDR Kindererziehung, ein Thema für sich, dem meiner Meinung nach noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, zu wenig aufgearbeitet wurde.
Beim Lesen stellte sich mir immer wieder die Frage, wie wenig Simones Eltern ihre Tochter kannten. Und gleichzeitig tauchte die Frage auf, wie sehr man seine Nächsten überhaupt kennen kann, wenn man sich selber nicht kennengelernt hat, wenn man im eigenen Leben fremd ist, weil der eigene Weg vielleicht auch vorgeschrieben war, man nicht frei und selbstständig entscheiden konnte. Wie wenig man unter diesen Umständen erträgt, wenn das eigene Kind Unabhängigkeit zeigt, eigene Vorstellungen vom Leben entwickeln könnte, aufzeigt, was man selber nie hatte.
Dann die Nachwendezeit, Lebensmodelle zerbrechen, junge Menschen erleben nicht nur ihre eigene Unsicherheit, sondern auch die ihrer Eltern, das was einmal galt, gilt plötzlich nicht mehr, ein zart begonnenes Leben wird ausgebremst, muss neu gedacht werden. Wie oft kann in eine komplett falsche Richtung gedacht werden, wie oft ein komplett ungeeigneter Weg gegangen werden, von dem man dann nicht mehr loskommt? Auch Simone erlebt ähnliches. Dann die Frage, warum Menschen aus Simones Generation mehr oder weniger gut durch diese Nachwendezeit gekommen sind und andere wegbrachen, sich nicht wieder fangen konnten. Auch das wird in diesem Roman thematisiert.
Ich bin ehrlich, Simones Geschichte hat mich emotional überfordert und doch, oder gerade deswegen, hat mir dieses Buch auch sehr viel gegeben. Was auch an der Schreibweise von Anja Reich liegt. Sehr journalistisch, aber ohne emotionslos zu wirken. Diese Mischung von Auszügen aus Simones Tagebüchern, nacherzählte Interviews, Zitate von Experten zum Thema Borderline-Störung und Suizid, Statements von Psychologen bei denen Simone in Behandlung war, Aussagen von Simones Weggefährten, ihrem Bruder, ihren Eltern, hat dieser Geschichte für mich die nötige Distanz gegeben um sie überhaupt lesen zu können. Denn am Ende bringt sich eine junge Frau um, ein Leben wird ausgelöscht. Selbstmord eine freie Entscheidung oder beinahe ein zwangsläufiges Resultat des bis dahin gelebten Lebens?