Reise in die Dunkelheit

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elke17 Avatar

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Ich bin ein großer Fan der Autorin, habe alles von ihr gelesen, was bisher in der Übersetzung erschienen ist, „Visitation Street“, „Wonder Valley“, „Diese Frauen“, und war begeistert. Mit „Sing mir vom Tod“ aber übertrifft Ivy Pochoda aber sämtliche Erwartungen und schlägt ein neues Kapitel auf.

„Sie weiß, dass es Menschen geben wird, die (…) ihren Verbrechen eine Bedeutsamkeit zumessen werden, die sie nicht hatten. Sie werden analysieren und forschen, dem Unsinnigen einen Sinn zuerkennen, bis sie zu einer mundgerechten Entschuldigung für ihre Verbrechen gelangen. (…) Sollen sie sämtliche Entschuldigungen für ihre Taten finden und nur den einen Punkt außer Acht lassen: wer sie wirklich ist. Eine gewalttätige Frau. Kein Unterschied zu einem gewalttätigen Mann.“

Es ist diese Aussage, die die Besonderheit dieses Thrillers ausmacht. Frauen, die Opfer von physischer oder psychischer Gewalt sind und deshalb gewalttätig, auch zu Mörderinnen werden, sind in der Kriminalliteratur zahlreich vertreten. Über rohe Brutalität, die von Frauen ausgeht und nicht reaktiv ist, sondern quasi in deren Natur liegt, liest man selten. Eine Leerstelle, die Pochoda gefüllt hat.

Ein überbelegtes Frauengefängnis in Arizona. Unter den Insassen Florence „Florida“, Tochter aus gutem Hause und nach eigener Aussage unschuldig verurteilt, und Diosmary „Dios“, aufgewachsen in prekären Verhältnissen, hochintelligente Stipendiatin an einem renommierten College, verurteilt wegen schwerer Körperverletzung, besessen, warum auch immer, von dem Verlangen, Florida zu demaskieren, ihre wahre Natur zum Vorschein zu bringen. Kommentiert werden die Ereignisse von Kace. Sie spricht mit den Toten, ist mittendrin, beobachtet genau, was um sie herum geschieht und kommentiert dies so, wie wir es von dem Chor der griechischen Klassiker kennen.

Während der Pandemie wird der Platz knapp, also gibt es vorzeitige Entlassungen, das heißt zweiwöchige Quarantäne mit diversen Auflagen in einem schmuddeligen Motel in the middle of nowhere. Dios heftet sich auf Floridas Spuren, stöbert sie auf. Letztere hat bereits gegn jede Vernunft beschlossen, das Motel zu verlassen und mit einem illegalen Bus Shuttle in ihre Heimatstadt Los Angeles zurück zu kehren. Einem Bus, den auch Dios nimmt und verantwortlich dafür zeichnet, dass die Gewaltspirale kein Ende nimmt. Und hier kommt die Dritte in Gestalt von Lobos ins Spiel, die mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hat.

Wir folgen diesen drei Frauen durch Gegenden in Los Angeles, insbesondere Koreatown und Skid Row, die wir bereits aus „Wonder Valley“ kennen. Die Obdachlosigkeit hat sich mittlerweile verschärft, die Zeltstadt kratzt bereits an Downtown, hat etwas Apokalyptisches. Pochodas Beschreibungen sowohl der Umgebung als auch der Personen sind subtil, tauchen in das Innerste ein und schaffen so eine Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann. Wütend, kraftvoll, lebendig und sensibel. Man klebt gebannt an den Seiten, wartet auf die nächste Eskalation bis zum dunklen Ende, dem unvermeidlichen Showdown, zu dem es schließlich, wie vorhergesagt, an der Ecke Olympic und Western in Koreatown kommen wird.

Eine Reise in die Dunkelheit, außergewöhnlich und provokativ. Pochoda at her best. Lesen!