Familiengeheimnisse

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merleredbird Avatar

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"Warum reden wir den ganzen Tag und erzählen uns doch so wenig?“
Es ist schon lange her, dass ich So wie du mich kennst lesen durfte. Dank Jellybooks habe ich das E-Book schon im Januar 2021 zur Verfügung gestellt bekommen. Bis Ende März musste ich die Klappe halten, durfte noch nicht mal erwähnen, dass ich das Buch schon gelesen habe. Und jetzt darf ich im April endlich meine Rezension veröffentlichen!
In So wie du mich kennst geht es um Karla und Marie, zwei Schwestern, die sich sehr nahestehen. Karla lebt weiterhin in ihrer Heimat, dörflich, in Deutschland. Und Marie lebt in New York, auf einem anderen Kontinent, und ist erfolgreich in ihrem Job. Doch dann stirbt Marie bei einem Unfall, und Karla fliegt in die USA, um ihre Wohnung aufzulösen. Dabei stößt sie auf Fotos, die Karlas Bild von ihrer Schwester ins Wanken bringen. Kannte sie ihre Schwester überhaupt?
Das Cover finde ich einerseits ansprechend, aber andererseits erinnert es mich sehr an das Cover von City of Girls von Elizabeth Gilbert, was in den 1940ern spielt. Und genau den Eindruck vermittelt das Cover auch: dass es in einem entfernten Jahrzehnt spielt. Dabei spielt es in der Gegenwart, also in den 2020ern. Ich kann mir vorstellen, dass viele von dem Cover eine falsche Vorstellung von dem Buch haben und gar nicht erst den Klappentext lesen werden, was sehr schade wäre!
Das Buch ist abwechselnd aus der Sicht von Karla und Marie geschrieben; bei Marie ist es natürlich vor ihrem Tod, und bei Karla danach. Ich fand die Perspektive von Marie deutlich spannender. Ich mag Bücher, wo man weiß, dass etwas Schlimmes passieren wird (hier also Maries Tod), aber man noch nicht genau weiß, wie und warum es passiert.
Man begleitet Karla und ihre Familie im Prozess der Trauerbewältigung und merkt, dass alle unterschiedlich damit umgehen. Jeder hat seine Methoden, jeder braucht unterschiedlich lang Zeit. Es vermittelt ein unglaublich realistisches und „raw“es (pur? roh? Ich finde grade kein passendes deutsches Synonym) Bild von Trauerbewältigung und ich konnte da richtig mitfühlen.
Durch den Perspektivwechsel weiß man ungefähr, was Marie gemacht hat und wie es ihr ging, und kann es mit Karlas Folgerungen vergleichen. Schnell wird klar: manche Geheimnisse nehmen Personen mit ins Grab. Das hat mich zum Nachdenken angeregt. Warum wird dieses spezifische Thema verheimlicht? Was kann man da machen? Kenne ich vielleicht selbst betroffene Personen, die es mir nicht erzählen?
Zudem fand ich das Buch als gutes Beispiel für „falsche Analyseschlüsse“. In der Schule mussten wir alle doch Gedichte durchanalysieren und nach Bedeutungen suchen, aber der Autor meinte das eigentlich ganz anders, und kann es uns nicht mitteilen. So ist es bei dem Buch. Wir wissen, was bei Marie los war, und wir lesen, was Karla für Schlüsse zieht. Und ich wollte ins Buch rein, und Karla schütteln, und ihr sagen, wer und wie Marie wirklich ist.
Das Buch hat viele Nebenhandlungsstränge, beschreibt viele Details und zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, dass die Haupthandlung aus dem Fokus gerät. An manchen Stellen waren es mir zu viele Details, und an anderen Stellen fehlt mir der Tiefgang.
Insgesamt konnte mich das Buch aber zum Großteil meiner Lesezeit fesseln; ich wollte weiterlesen und habe mitgefiebert, ob Karla die Geheimnisse von Marie aufdecken kann. Der Stil ist angenehm und leicht zu lesen; ich empfinde es allerdings nicht als poetisch, wie ein paar andere Rezensent*innen.
Ich gebe dem Buch 4 Sterne und bin gespannt auf die Bücher, die Anika Landsteiner noch veröffentlichen wird! Ihr Roman „Mein italienischer Vater“ wandert direkt auf meine Leseliste – dort geht es nämlich wieder um Familiengeheimnisse.