Geschwister und Geheimnisse

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
bjoernandbooks Avatar

Von

Karla und Maria - zwei Schwestern, die sich so nahe stehen. Aber seit kurzem ist Karla ohne Marie. Bei einem Verkehrsunfall in Maries Wahlheimat New York kam diese ums Leben, und Karla sieht sich mit vielen Fragen konfrontiert: Wie konnte es passieren, dass die stets aufmerksame Marie die Ampel bei Rot überquert hat? Gibt es etwas, was ich nicht über meine Schwester weiß? Und was hat das Ehepaar aus der Wohnung gegenüber damit zu tun? Eigentlich nach New York gekommen, um das Apartment ihrer Schwester aufzulösen, begibt sich Karla auf Spurensuche und bleibt länger, als sie eigentlich vorhatte. Nach und nach entdeckt sie Facetten an ihrer geliebten Schwester, die ihr verborgen geblieben waren, obwohl sie angenommen hatte, dass sie keine Geheimnisse voreinander hätten. Und während sich manches Rätsel vorsichtig vor ihr offenbart, bleibt manch anderes geschlossen.

„Man kann auf so unterschiedliche Weisen eine Person um ihr Leben bringen“ (S. 293).

Anika Landsteiner gelingt mit „So wie du mich kennst“ eine faszinierende Familienstudie. Die Schwestern Karla und Marie, die so viel verbindet und gleichzeitig so viel unterscheidet, werden intensiv und detailreich beschrieben; ihre Beziehung zueinander wird von der ersten Seite an spür- und fast greifbar. Während die Leser*innen Karla auf ihrer Großstadtodyssee Schritt für Schritt folgen dürfen, werden Maries Erlebnisse wie kleine Einsprengsel in Karlas Reise auf dem Weg zu ihrer Schwester eingestreut. Das geschieht behutsam, in langsamem Tempo und mit vorsichtig und bewusst gewählten Worten. Man meint die beiden Schwestern zu kennen, aber doch auch nicht so richtig. Genau dieses Spiel von Nähe und Distanz ist eine große Stärke.

Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, spielt auch die Gewalt gegen Frauen eine große Rolle in Landsteiners Roman. Die Andeutungen verdichten sich zunehmend, lassen die furchtbaren Erfahrungen konturierter erscheinen und doch niemals zur Gänze hervortreten. Anika Landsteiner gelingt es hervorragend, die Waage zwischen Betroffenheit und Stärke, zwischen Hilflosigkeit und Autarkie der Frauenfiguren, zwischen dem Gefangensein und dem Herauslösen aus Abhängigkeiten zu behalten.
Begeistert war ich auch von dem Clash der Lebenskulturen: Karlas Erfahrungen im fränkischen Dorf und in der amerikanischen Großstadt geraten nie zu einem humoristisch aufgeladenen Zerrbild, sondern zeigen Unterschiede und Gemeinsamkeiten da auf, wo man sie am wenigsten vermutet: in den Menschen, die einen umgeben.

Weitere Rezensionen auf Instagram @bjoernandbooks