Intensiv und berührend

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Karla arbeitet als Lokaljournalistin in ihrem Heimatdorf in Bayern, ihre jüngere Schwester Marie ist eine bekannte Fotografin, die in New York lebt. Als Marie bei einem tragischen Autounfall ums Leben kommt, droht Karla daran zu zerbrechen. Keinem anderen Menschen stand sie so nah wie ihrer Schwester. Als Kinder und Jugendliche waren sie unzertrennlich und auch nachdem Marie weggezogen ist, haben die beiden täglich miteinander telefoniert. Als Karla zur Wohnungsauflösung nach New York fliegt, stößt sie auf dem Laptop ihrer Schwester auf einen Ordner mit schockierenden Fotos. Bedeuten diese Fotos, dass Marie ein Geheimnis mit sich trug, dass sie nie mit ihrer älteren Schwester geteilt hat? „Ich hatte Marie verloren, war nur noch die Hälfte einer Einheit, und weil das nicht reichte, um ein Durchschnittsleben zu erschüttern, hinterließ sie einen Ordner voll mit Bildern, die mir eine Verantwortung zuschoben und Fragen aufwarfen.“

Karla hinterfragt ihre Beziehung zu ihrer Schwester, aber auch diejenige zu ihren Eltern und zu ihrem langjährigen Freund, von dem sie sich kürzlich getrennt hat. Auch die Natur von menschlichen Beziehungen im Allgemeinen sind Gegenstand ihrer Reflexionen. So fragt sie sich, ob sie eine Verantwortung für die Frau trägt, die in der New Yorker Wohnung gegenüber lebt und der Gewalt von ihrem Ehemann angetan wird. Marie hatte ihrerzeit nicht eingegriffen, doch der Grund dafür ist nicht in fehlender Empathie zu suchen. Er rührt von einem persönlichen Trauma, dem wir Schritt für Schritt in den Kapiteln näher gebracht werden, die aus Maries Perspektive geschrieben sind. Karla dagegen ist im Stande aktiv einzugreifen. Langsam nähert sie sich einer fremden Frau, die Hilfe zu brauchen scheint, und gleichzeitig nähert sie sich dem Teil von Maries Geschichte, der für sie bisher im Dunkeln lag.

Neben den vielen wichtigen Themen, die Anika Landsteiner in ihrem Roman behandelt – dem Verlust eines geliebten Familienmitgliedes und wie man mit der Trauer umgeht, der Natur von menschlichen Beziehungen, der alltäglichen Sinnsuche im Leben und der häuslichen Gewalt gegen Frauen – bietet der Roman auch eine tiefgehende Analyse der Stadt New York. Beim Lesen spürt man ganz deutlich, dass die Autorin längere Zeit in New York gelebt haben musste. „Marie hatte einmal zu mir gesagt, dass die Stadt einem nicht dabei half, sich zu finden – sondern vielmehr unter die Arme griff, wenn man sich verlieren wollte. Und doch, dachte ich dann, ist sie die Heimat so vieler Geschichten, in denen sich zwei Menschen verstohlen anblicken. Und sich trauen, einander zu finden.“

Seit ich Anika Landsteiners Sachbuch „Leben wird aus Mut gemacht“ gelesen habe, schätze ich die Autorin sehr. Umso gespannter war ich auf ihr neuestes belletristisches Werk. Ich wurde nicht enttäuscht. Anika Landsteiner hat mit dem Roman „So wie du mich kennst“ ein ebenso intensives wie berührendes Werk geschaffen, das lange nachhallt. Wenn man über die enge Verbindung zwischen den beiden Schwestern Marie und Karla liest, mag man es kaum für möglich halten, dass die Autorin selbst Einzelkind ist. Da ich selbst eine ältere Schwester habe, der ich sehr nahe stehe, konnte ich mich in vielem wiederfinden. Und trotzdem – oder gerade deshalb? – frage ich mich auch manchmal, ob wir beide wirklich alles voneinander wissen. „So wie du mich kennst“ ist ein vielschichtiger, kluger und berührender Roman, den ich jedem nur wärmstens ans Herz legen kann.