Zwischen häuslicher Gewalt und intensiver Trauerarbeit

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Anika Landsteiner ist ein über ganz weite Strecken ausgezeichneter Roman gelungen, der mich begeistern und fesseln konnte. Marie, Fotografin in Manhattan, verunglückt bei einem Verkehrsunfall tödlich. Ihre Schwester Karla reist nach New York, um Maries Leben dort zu rekonstruieren und aufzulösen, ihre Habseligkeiten zu verpacken und das, was von ihrem Leben bleibt, wieder mit nach Franken zu nehmen.

Wer New York liebt, wird diesen Roman sehr genießen, denn es gelingt der Autorin das Flair der Stadt, ihren Atem und Lebensrhythmus, ihre Anonymität und die kleinen Inseln der Zwischenmenschlichkeit sehr authentisch, lebensnah und überzeugend einzufangen, ohne dabei "mehr New Yorker zu sein als die New Yorker". Allein deshalb hat mir dieser Roman sehr viel Freude gemacht - man spürt die Wärme in den Straßen, die Brise auf Coney Island, die Begrenztheit des eigenen Lebens auf den limitierten Bereich der eigenen Nachbarschaft und die unbegrenzten Möglichkeiten, die jenseits des eigenen kleinen Apartments warten.

Der Weltmetropole wird die Beschaulichkeit der fränkischen Provinz gegenüber gestellt, in der die Lokaljournalistin Karla ihr Leben gestaltet. Hier dominieren Naturbeschreibungen, Erinnerungen an Sommernachmittage am See und die erdrückende Wirkung des Bekanntseins mit jedem einzelnen Bewohner.

Das zentrale Thema des Romans aber sind die Geheimnisse, die es zwischen Schwestern gibt. Wie ein roter Faden zieht sich die Diskrepanz zwischen oberflächlichem Kennen, tiefer innerer Verbundenheit und Scham, das Unaussprechliche der anderen gegenüber zu formulieren, durch den Roman. Dies geschieht sehr nachvollziehbar - manchmal erfordert es aber auch hohe Konzentration, da der Informationsvorsprung, den der Leser durch die zwischen den Schwestern wechselnden Erzählperspektiven erhält, manchmal vergessen lässt, dass Karla bestimmte Dinge (noch) nicht weiß.

Die Figurenzeichnung ist ausgesprochen gut gelungen, hier gelingt das Leben durch fremde Augen auf sehr eindrucksvolle Weise, zumal Karla bei ihrer Reise nach New York auch in gewisser Weise beginnt, Maries Leben zu leben. Ebenso faszinierend ist der Spannungsbogen, denn zu einem recht frühen Zeitpunkt schleicht sich langsam ein Handlungsstrang ein, der einer Krimi-Handlung gleicht, und dem Leser gemeinsam mit Karla Rätsel aufgibt.

Bei allem was dieser Roman richtig macht, besonders auch im Hinblick auf die Beschreibung von Trauerformen, Trauerarbeit und Trauerbewältigung, geht ihm leider auf den letzten Metern die Luft aus. Leider will die Autorin zum Ende hin für ihre Figuren noch alles besser machen und überfrachtet die sich in die Länge ziehende Endpassage mit Klischees und im Falle einer Figur auch noch mit einer unnötigen Backstory. So fügt sich das Ende wenig harmonisch an den sonst beeindruckenden Roman und erfüllt leider meine Befürchtung, dass hier ein toller Text nicht vernünftig über die Ziellinie gebracht wird. Von dieser Kritik möchte ich ausdrücklich den Epilog ausnehmen, der wiederum sehr berührend geraten ist.

Insgesamt ein Roman, der mir ausgesprochen gut gefallen hat, spannend und gut zu lesen war, aber der auf den letzten Seiten sein Niveau nicht mehr konsequent halten kann.