Antiheldentum
Antiheldentum. Das ist der rote Faden, der sich durch Micha Lewinskys ersten Roman "Sobald wir angekommen sind" zieht. Lewinskys Antiheld Ben ist beherrscht von dem Gedanken, was sein Tun und Lassen bewirken könnte. Und stets fürchtet er irgendwelche Konsequenzen, was ihn zu einem unentschlossenen Zeitgenossen macht. Zumeist ist er jemand, der auf die Handlungen der anderen reagiert, sich nicht festlegen mag, keine Position bezieht. Das einzige, was ihn in seiner Identität bestärkt ist, dass er als Jude gewappnet sein und ständig auf irgendeine Flucht vorbereitet sein muss. Und es gibt einen Fluchtanlass: Den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Befürchtung, dass dieser Krieg sich ausweiten und zu einem atomaren Schlagabtausch führen könne, man auch in der Schweiz nicht mehr sicher sei. Zwar vorher getrennt von seiner Frau, aber immer noch in der gemeinsamen Wohnung zusammenlebend mit ihr und den beiden Kindern, beschließt die Familie nach Brasilien auszuwandern (wobei die Initiative nicht von Ben sondern von seiner Ex-Frau ausgeht). Ben ist Drehbuchautor, hat einen vor Jahren gut besprochenen Roman geschrieben und arbeitet zu 'Stefan Zweigs Zeit inkl. dessen Suizid in Brasilien, weshalb ihm genau dieses Fluchtziel als sehr geeignet erscheint, um sich erneut wieder ins Gespräch zu bringen. Gleichzeitig flieht Ben aber auch vor seiner Geliebten Julia, die er zurücklässt, und damit auch vor einer wichtigen Lebensentscheidung. In Brasilien scheitern Bens Versuche, Männlichkeit zu zeigen, Julia seine trotz der Distanz fortbestehende Liebe immer wieder zu verdeutlichen, seine Ex-Frau zurückzugewinnen, immer wieder. Ben gibt das Bild eines Mannes auf der Suche nach einer selbstbewussten, eigenen Identität ab; als einziges Identitätsangebot scheint sein Jüdischsein herhalten zu müssen; seine Kränklichkeit schützt ihn vor selbstbewusster Verantwortungsübernahme; als Leser:in möchte man Ben über das gesamte Buch hinweg an die Hand und besser noch an die Brust nehmen. Das Buch ist wie ein Film, bildmächtig und nie langweilig. Ben ist als Figur zwar überzeichnet, aber durchaus in sich stimmig ausgestaltet, nur so manche Reaktion der 'Mitwelt' auf Ben finde ich nicht ganz so nachvollziehbar und etwas konstruiert. Gut lesbar. Hat mir einige Schmunzler abgerungen.