Eine Flucht vor den inneren Ängsten

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liselottchen1 Avatar

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Im Mittelpunkt des Buches steht Ben Oppenheim, ein Mann mittleren Alters und jüdischer Abstammung, der in der Schweiz lebt. Er ist Autor, hat jedoch nach einem erfolgreichen Erstling nichts mehr zustande gebracht. Er arbeitet an einem Drehbuch über Stefan Zweig, den im 20. Jahrhundert freiwillig aus dem Leben geschiedenen Schriftsteller, von dem Ben regelrecht fasziniert ist. Sein Privatleben spielt sich zwischen seinen Kindern, die er in einem Nestprinzip abwechslungsweise mit seiner Ex Marina betreut, und seiner neuen Freundin Julia, deren vierjähriger Sohn Prince ihn ablehnt. Zudem hat er noch seinen Freund Joachim, der wegen Depressionen in der Psychiatrie behandelt wird.
Bens Ängste führen dazu, dass er bei Ausbruch des Ukrainekriegs fest an den Dritten Weltkrieg glaubt und daher mit den Kindern und Marina nach Brasilien fliegt, weil auch sein Idol Stefan Zweig dort Zuflucht gefunden hat. Wollen sie für immer dortbleiben?

Der Autor hat eine wortgewandt niveauvolle Sprache, die es mir leichtmachte, sofort mittendrin im Geschehen zu sein. Mit einem Augenzwinkern werden historische Tatsachen erwähnt über die Ben resümiert. Die Figur Ben ist ein von ihren Ängsten getriebener Mann, der mir oft vorkam, wie ein Schiff ohne Anker. Dies zeigt sich in allen seinen Handlungen und Gedanken, an denen man reichlich teilhaben darf. Der Roman ist ausschließlich aus Bens Perspektive in der dritten Person geschrieben und manchmal wollte ich ihm einfach mal einen Schubs geben in seiner Unentschlossenheit. Die Geschichte lebt durch die starken Charaktere, wie ein Film, bei dem sämtliche Figuren bis in die kleinste Nebenrolle mit erstklassigen Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt sind. Dass die Lesenden alles nur durch Bens Augen sehen können, hatte für mich einen speziellen Reiz, weil seine Einschätzung nicht unbedingt die richtige sein muss. Ben liebt seine Kinder und möchte irgendwie zu seiner Frau zurück, die widersprüchliche Signale sendet. Freundin Julia stärkt sein Selbstwertgefühl, das von Prince wieder niedergemacht wird, er kommt jedoch nicht auf die Idee, sich um den Jungen auf irgendeine Art zu bemühen. Es sind herrliche Szenen mit Joachim und ihm, der die Weltsituation in gleicher Weise negativ sieht. Auch seine Agentin Ute hatte ich sofort vor Augen, die zuerst über Banalitäten spricht, ehe sie zum Punkt kommt. Ebenfalls eine interessante Persönlichkeit ist Bens Vater Jacques, ein steinreicher Unternehmer. Sein Ärger darüber, dass ein »russischer Rohstoffhändler« nun seinen Platz am Friedhof erhalten würde, und dass er nun erwägt, sich lieber in einer anderen Stadt beerdigen zu lassen, war köstlich zu lesen. Die beste Szene war für mich zwischen einem Deutschen und Ben, die sich um einen Stuhl streiten und der auf ungewöhnliche Weise beendet wird.
Ein wortgewaltiges Buch, mit zahlreichen tiefsinnigen Gedanken, das ich sehr gern weiterempfehle.