Man lebt ferner - sofern man lebt!

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sonja steckbauer Avatar

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David Safier erzählt in seinem Roman von einer großen und dennoch unmöglichen Liebe, der Liebe eines Juden und einer Nicht-Jüdin in Deutschland, der Liebe seiner Eltern.
Er erzählt von Joschi, einem jüdischen Schneidersohn polnischer Herkunft und seiner ersten großen Liebe zu Hedy, Tochter von wohlhabenden Wiener Juden, welche nach Paris emigrierten, während Joschi als letzten Ausweg seiner Schwester Rosl nach Palästina folgte und seine Eltern Wien nicht mehr rechtzeitig verlassen konnten.
Und er erzählt von Waltraut, welche in Bremen als Tochter eines Werftarbeiters in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, wie ihr bereits früh in der Schulzeit versucht wurde, ihr den Mut einer Löwin zu nehmen und sie dennoch weiterhin als junge Witwe und Mutter ums Überleben im Nachkriegsdeutschland kämpfte.
In parallelen Erzählungen und aus unterschiedlichen Perspektiven lernen wir die beiden so verschiedenen Leben von Safiers Eltern kennen, welche sich trotz aller Widernisse in Bremen finden und heiraten. Besonders interessant ist dabei Joshis Sicht auf das Aufeinandertreffen und das schwierige Miteinander der Juden in Israel, deren Beweggründe und Lebensweise unterschiedlicher nicht sein könnten, von seinen Nachbarn Selma und Jakov, deren wichtigste Gemeinsamkeit das Überleben in einem KZ ist bis zu seinem Freund Amos in einer US-Bar, welcher Jazz-Musiker werden wollte, letztendlich aber an seiner Vergangenheit zerbrach. Auch im Deutschland der Nachkriegszeit fühlt Joshi sich nicht wohl als Jude, bei jeder Bekanntschaft überlegt er, welche Rolle dieser Mensch im Krieg gespielt hatte, und sein wiederholtes berufliches Scheitern ist nicht zuletzt auf seine eigene Vergangenheit zurückzuführen. Bei seinem einzigen Besuch in Wien muss er ernüchtert feststellen, dass es sein Wien nur mehr in seinen Erinnerungen gibt, und er erinnert sich dabei an das (im Titel zitierte) Gedicht seiner Schwester mit den Worten: „Der Ort, den er so geliebt hatte, war für immer vergangen.“ (S. 196)
Historische Ereignisse, wie der Eichmann-Prozess, werden differenziert betrachtet: So ist Joshi für die Zeugenaussagen dankbar, weil er erstmals begreift, was die Menschen in den Konzentrationslagern durchgemacht hatten, seine jüdische Ehefrau Dora jedoch, selbst Holocaust-Überlebende, kann diese Berichterstattung kaum ertragen.
Bei aller Tragik der Ereignisse ist die Erzählung voller Humor, jüdischen Humor, gespickt mit jiddischen Phrasen und Scherzen. So als Joschi auf der schwierigen Flucht aus Wien einen neuen Freund findet „und dachte, dass seine neue Bekanntschaft offenbar nicht die hellste Kerze im Chanukkaleuchter war.“ (S. 72) Schon zu Beginn des Romans ist der Leser amüsiert und verwirrt zugleich, wenn sich der Erzähler beim Begräbnis seines Vaters über „die angeheuerten Sowjet-Juden, die mit ihren Lidl-Tüten davon schlurften“ (S. 10) lustig macht. Und er weiß am Ende nicht, ob die Geschichte, die sich auf 450 Seiten über 60 Jahre spannt, ebenso eine Erfindung des Erzählers ist wie all die Geschichten, die ihm seine Mutter „im Laufe ihres Lebens mit einer solchen Intensität erzählt hatte, dass sie nach einer Weile selbst daran glaubte.“ (S. 12)