Nicht ganz überzeugend

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bücherfreund54 Avatar

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Kurt Tallert, bekannt als Rapper unter dem Künstlernamen „Retrogott“, geht in seinem Sachbuch „Spur und Abweg“ der Geschichte eines Teils seiner Familie nach. Sein Vater Harry Tallert, Jahrgang 1927, war ein sogenannter „Halbjude“, der 1944 bis zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur in Gestapo-Haft genommen war. Später wurde er Journalist, Abgeordneter in der Bremer Bürgerschaft und schließlich Bundestagsabgeordneter. Er starb früh 1997, als sein Sohn 12 Jahre alt war.
Harry Tallerts Leben ist sicherlich eine Biografie wert. Wie entwickelt sich ein Denken, wenn ein Mensch in einer menschenverachtenden Diktatur aufwächst, die ihm selbst das Menschsein abspricht? Welche journalistischen Themen, welche politischen Themen haben ihn später interessiert. Darüber erfährt man so gut wie nichts. Aus seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter wird nur eine Anekdote berichtet, als er mit lautstark mit Herbert Wehner, dem damaligen Fraktionsvorsitzenden, zusammenprallt.
Kurt Tallert hat ein anderes Erkenntnisinteresse: Er unternimmt umfangreiche Recherchen zur Familie seines Vaters, wertet einige schriftliche Zeugnisse aus, die sein Vater hinterlassen hat und bereist wichtige Orte wie Buchenwald, das ehemalige Internierungslager Lenne, in der sein Vater inhaftiert war, Theresienstadt u.a. Und immer wieder stellt er die Frage: Was macht das mit meinem Leben zu tun, mit meiner Identität? Die Reflexionen darüber machen einen Großteil des Buches aus und sie sind leider sehr häufig für mich als Leser nur sehr schwer nachvollziehbar. Immer wieder bin ich auf Formulierungen gestoßen, die ich einfach nicht verstanden habe. Dazu gehört auch der Brief, den Kurt Tallert zum Ende des Buchs an seine aus einem Altenheim deportierte Urgroßmutter Bertha schreibt. Darin heißt es: „ Was ich von Dir will, ist recht bescheiden und doch nicht ohne Schwierigkeiten. Es geht nur mit Deiner Hilfe. Ich will nämlich meiner Urgroßmutter ein Urenkel sein, damit sie eine Urgroßmutter ist und nicht nur ein namenloses Laub oder gar Asche.“ Ich verstehe das nicht. Worin soll die Hilfe der Urgroßmutter bestehen? Immer wieder bin ich in dem Buch auf Reflexionen zur Identität gestoßen, die ich einfach nicht verstanden habe.
Dabei hat das Buch starke Momente und zwar immer dann, wenn Tallert von konkreten Ereignissen erzählt.
Ein solches Ereignis besteht darin, dass Kurt Tallert in der Schreibtischschublade seines Vaters unter anderem eine Impfbescheinigung seines Vaters gegen Diphterie aus dem Jahr 1942 findet, auf der der Dank ausgedrückt wird, dass mit der Impfung ein Beitrag zur „Volksgesundheit“ geleistet wird. Im selben Jahr wird Harry Hallert interniert, um die „Volksgesundheit“ zu schützen.
In einer weiteren Passage berichtet der Autor, dass in dem Deportationszug, mit dem eine Cousine seines Vaters abtransportiert wird, auch Abraham Adolf Kaiser saß. Kaufmann hatte 1936 während der Olympiade einen anonymen Brief an den mehrfachen Olympiasieger Jesse Owens geschickt, in dem er diesen aufforderte, seine Goldmedaillen Hitler vor die Füße zu schmeißen. Verhaftet wurde Kaufmann dann später, weil er sich weigerte, den Davidstern zu tragen. Ich kannte diese Begebenheit nicht.
Ein drittes Ereignis sei hier noch angeführt: Der Großvater von Kurt Tallert, der die Deportation nach Therensienstadt überlebt hat, stellte nach dem Krieg einen Antrag auf Wiedergutmachung bei der Bundesregierung. Das ablehnende Gutachten des Mediziners Prof. Otto Heß, seinerseits Mitglied der NSDAP, ist lesenswert, weil es bezeichnend ist dafür ist, wie wenig es tatsächlich eine Stunde Null im Nachkriegsdeutschland gegeben hat.
Die Auswertung solcher Begebenheiten sind in meinen Augen wesentlich aufschlussreicher als die permanente Selbstbespiegelung des Autors.
Von Seiten des Verlags wären drei Maßnahmen hilfreich gewesen, um die Auseinandersetzung mit dem Buch zu erleichtern:
1. ein Inhaltsverzeichnis, einmal , um etwas schneller nachschlagen zu können, zum anderen um einen roten Faden des Gedankengangs zu entdecken, der mir so verschlossen geblieben ist,
2. ein Stammbaum der Familie Tallert mit Todesdatum und Ort des Todes (soweit bekannt)
3. ein Personenverzeichnis mit Stellenangaben, um etwas gezielt nachlesen zu können.