Ein absolutes Lesehighlight

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scarletta Avatar

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Tom Monderath lebt sein Leben als beliebter Nachrichtensprecher und Fernsehjournalist auf Hochtouren. Für eine eigene Familie sieht er darin keinen Platz, sondern genießt lieber sein Single-Dasein in vollen Zügen. Doch die Midlife-Crisis lässt schon grüßen. Wenn ihn jemand oder etwas in seinem Turboleben aufzuhalten scheint, kann er ziemlich ungehalten und grob reagieren.

Dass irgendwas mit seiner alten, über 80igjährigen alleine lebenden Mutter nicht stimmt, würde er deswegen gerne übersehen. Da Mutter Greta nicht auf den Mund gefallen und sich viele Tricks und Ausreden als Schutzschild aufgebaut hat, geht das auch eine Weile gut. Doch immer wieder muss er das Wort Demenz fortscheuchen. Irgendwann bricht aber Gretas Kartenhaus der Erinnerungszettel und kleinen Lügen zusammen. Tom muss seine Mutter in einem mehrstündig entfernten Krankenhaus abholen, da sie in verwirrtem Zustand in die Irre gefahren und aufgegriffen worden ist.

Wie unangenehm, da die Presse davon Wind bekommt sowie sämtliche Termine durcheinandergeraten. Zu allem Überfluss wird ihm mit Jenny eine Ersatz-Assistentin an die Seite gestellt, der er genervt deutlich zu verstehen gibt, dass er sie für inkompetent und unattraktiv hält.

Stress pur für den von Erfolg verwöhnten und leicht arroganten Tom. Es bleibt ihm aber nichts anderes übrig, als sich der Situation zu stellen.
Bislang hatte Mutter Greta über ihre Kindheit und Jugend nur wenige Worte ihrem Sohn gegenüber verloren. Es schien, dass sie die Erfahrungen in Kriegs- und Nachkriegszeit komplett verdrängen wollte. Toms Erinnerungen an seine eigene Kindheit sind geprägt von der schwierigen Ehe seiner Eltern, den zeitweisen Aufenthalten der Mutter in Sanatorien, dem Schweigen und Rückzug. Bislang hatte er nichts davon hinterfragt.

Doch mit der zunehmenden Demenz seiner Mutter Greta öffnet sich diese gegenüber ihrer Vergangenheit. Die Grenzen werden fließend. Die Bilder und Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend während der Nazi-, Kriegs- und Nachkriegszeit werden lebendig. Plötzlich erzählt Greta von einer Tochter, es tauchen Namen auf, die Tom nicht kennt.

Damit trifft Greta den Nerv ihres Sohnes als früheren Investigativjournalisten. Mit jedem Puzzlestein, jedem Satz, der Greta herausrutscht wächst seine Neugierde. Doch allein wird er das Geheimnis seiner Mutter nicht lüften können und auf die Spur seiner verschollenen Schwester kommen.
Wer hätte gedacht, dass seine Mutter ihr Herz an einen farbigen GI verloren hatte? Ein absolutes Tabuthema jener Zeit.

Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und auch die amerikanische Besatzungsmacht tabuisierten das Thema nicht nur, sondern schafften oft auch Tatsachen.
Seine ungeliebte Assistentin hat gerade entbunden. Also muss sie dem ungeduldigen Tom zwischen Windelnwechseln und Baby stillen auch noch Infos besorgen.

Fazit:

Was für ein rasanter und spannender Roman, der uns nicht nur in eine verdrängte Familiengeschichte führt. Die Autorin erzählt die Geschichte geschickt auf zwei Zeitebenen Es werden sehr lebendig Kapitel deutscher Geschichte aufgeschlagen. Gretas Familie ist schon vor dem Krieg zerrissen mit einem Nazivater und einem sozialdemokratischen Großvater. Eindrücklich wird die Situation der Kinder in der Zeit vor, während und nach dem Krieg dargestellt.

So wie die Erinnerung Gretas immer lebendiger und wie ein abdichtender Deckel abgesprengt wird, erfahren die Leser*innen in Rückblenden davon. Der nachforschende Protagonist Tom muss mühevoller darum ringen.
Die Realitätsebene der Handlung befindet sich im Jahr 2015, so dass immer wieder auch Parallelen zur Flüchtlingskrise jenes Jahres gezogen werden können.

Sehr bewegend geschildert wird Gretas Situation nach der Flucht aus Ostpreußen nach Heidelberg. Ihre zarte Liebe zu dem farbigen GI ist sehr bewegend. Wie die politische Lage in Deutschland und in den USA gemischt-farbigen Paaren ein Zusammenleben verunmöglicht hat, wird einem erschreckend klar.

Toms Nachforschungen sind spannend wie ein Krimi. Kein Wunder, dass das Erfahrene und Erlebte nicht spurlos an ihm vorüber geht. Mittlerweile weiß man, dass auch die nächsten und übernächsten Generationen die Folgen solcher Geschehnisse tragen müssen. Seine persönliche Wandlung ist absolut nachvollziehbar.

Sehr bewegend und offen wird hier ebenso das Thema der Demenz aufgegriffen.
Ein vielschichtiger Roman, der mich in Gedanken noch länger begleitet hat. Was für ein Lesehighlight!