Meisterhaft erzählt, ich bin sprachlos!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
lorireads Avatar

Von

Nie hätte ich gedacht, dass sich hinter diesem doch eher schlichten Cover eine derart fesselnde und weitgreifende Geschichte verbirgt, die mich so viel neues gelehrt hat und mir erschütternde Details der deutschen Nachkriegszeit erzählt hat. Als junge Frau Anfang 20 ist der zweite Weltkrieg für mich recht weit weg und erst durch einige Bücher, die ich in der letzten Zeit gelesen habe, habe ich gemerkt, wie wenig ich über diese Zeit eigentlich weiß - über die "Standartthemen", die in der Schule gelehrt werden, hinaus. Seitdem interessiere ich mich sehr für Schicksale während und nach des zweiten Weltkrieges und war durch die Inhaltsangabe von "Stay away from Gretchen" gleich sehr interessiert. Trotzdem war ich nicht vorbereitet auf diese weitgreifende, fesselnde und erschütternde Geschichte, die so viele wichtige Themen abdeckt und dabei dennoch total unterhaltsam war. Für mich ein grandioses Buch, dass ich sicherlich weiterempfehlen werde und vielleicht auch noch einmal lese (Und das tue ich bei historischen Romanen eigentlich nie).

Der Einstieg in die Geschichte verläuft über Tom Monderath, einen bekannten Kölner Journalisten, gestresst, alleinstehend und ohne Absicht, sich jemals zu binden. Seine Mutter Greta besucht er regemäßig, doch dann passieren einige witzige Vorfälle und der Verdacht liegt nahe, dass Greta an Demenz erkrankt ist. Die Handlung wird zu Beginn abwechselnd aus Toms und Gretas Sicht erzählt und vor allem aus Toms Sichtweise ist der Schreibstil schon sehr derb und wenig ausgeschmückt. Genau das fand ich aber so toll, weil ich trotz des eher emotionslosen Schreibstils - oder gerade deswegen - sehr viel über Tom erfahren habe und überraschender Weise auch direkt Sympathien zu ihm aufbauen konnte. Allein das finde ich schon eine Meisterleistung, wo der Nachrichtensprecher, dessen Leben aus Hektik, Wutausbrüchen, übermaßigem Alkoholkonsum und Gelegenheitssex besteht und er zu Beginn charakterlich eigentlich wenig überzeugt. Und trotzdem war ich wie gebannt von der Geschichte und erstmal ziemlich überfordert, als die Handlung plötzlich wechselte und man die achtjährige Greta in Ostpreußen kennenlernte, in der Zeit kurz vor dem zweiten Weltkrieg. Nach wenigen Seiten war ich aber auch in diesem Handlungsstrang völlig gefangen, der so ganz anders erzählt war, als zuvor die Geschichte aus Toms Sichtweise und aus der Perspektive der leicht verwirrten, älteren Greta.

Die Handlung wechselt sich nun mit jeweils relativ langen Passagen aus Vergangenheit und Gegenwart ab und jedes Mal gelang mir der Wechsel in die jeweils andere Zeit mühelos, es war einfach alles total stimmig, fesselnd und toll erzählt. Während in der Gegenwart Gretas Demenz, Toms eigene psychische Probleme, die Geschichte der Familie und die Flüchtlingskrise 2015/2016 in Deutschland behandelt wurden und vor allem letzteres Thema auf grandiose Art und Weise mit der Flucht der jungen Greta und ihrer Familie aus Ostpreußen verknüpft wurden, behandelte die Geschichte der Vergangenheit so viel mehr als das Leben in Ostpreußen und die Flucht während des Krieges. Es geht um die Nachkriegszeit in der amerikanischen Besatzungszone, um Liebe, Ausgrenzung, Armut, um die sogenannten Brown Babies und die unvorstellbaren Geschichten, die mit diesen Kindern verbunden sind. Selbst den Bogen in die aktuelle Situation der USA, in der Rassismus noch immer ein wichtiges Thema ist, gelingt der Autorin mühelos.

Für mich ist das Buch ein absolutes Highlight, das so viel Wissen vermittelt, aber auch die daran geknüpften Emotionen nicht vernachlässigt. Das Buch erzählt von einem ganzen Leben und noch von viel mehr und ist für mich ein wahrer Schatz, über den ich sehr froh bin, ihn entdeckt zu haben. Der Autorin gelingt alles, was ein gutes Buch ausmachen muss. Sie baut eine Beziehung zu den Protagonisten auf, hat einen interessanten Schreibstil, der je nach Situation ganz anders sein kann, erzählt ungeschönt von den damaligen und heutigen großen gesellschaftlichen Problemen, aber auch von den Einzelschicksalen, die daran gekoppelt sind. Die Botschaft des Buches ist für mich, dass wir immer weiter unsere Vergangenheit aufarbeiten müssen, dass wir unsere Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergeben und dass wir auf gar keinen Fall aufhören dürfen, über diese Dinge zu reden und sie zu verarbeiten.